Verkörperter Wandel. Martin Witthöft
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Vom Standpunkt einer bewussten, schwingungsfähigen Identität aus bedeutet Mitgefühl haben, bei sich selbst sein zu können. Diese Haltung der mitfühlenden Annahme ermöglicht es uns auch, mit anderen zu fühlen. Gefühle bedrohen uns also nicht länger oder widersprechen einander, sondern erscheinen als aufsteigende und abebbende Wellen in unserem Bewusstsein.
Um mit anderen Menschen mitzufühlen, ist es notwendig, unsere eigene Identität und unsere Bedürfnisse zurückstellen zu können. Diese Qualität ist nah an der unverfälschten Quelle (Purusha). Persönliche Färbung (Rajas) schränkt die Mitgefühlsfähigkeit ein. Wenn wir mit starken Wertungen von »richtig« und »falsch« identifiziert sind, kann nicht genügend Raum für die Gefühle unserer Mitmenschen entstehen.
Lautet beispielsweise ein Glaubenssatz von uns »Man sollte immer glücklich sein«, macht er es uns unmöglich, authentisches Mitgefühl für die Trauer anderer zu empfinden. Auch ein Beziehungsbedürfnis kann dem Mitgefühl blockierend gegenüberstehen: Wenn wir eine Person sehr mögen und ihre Nähe schätzen, wird es uns schwerfallen, sie mitfühlend in ihrem Bedürfnis nach Abstand und Unabhängigkeit zu unterstützen.
Für die Entwicklung von Mitgefühl brauchen wir also eine gewisse Durchlässigkeit, sowohl der eigenen Identität als auch unserer Bedürfnisse.
Blau: Sattva, Achtsamkeit und Bewusstheit – Die geistige Ebene
Sattva steht im Sankhya für das lichtvolle, reine und geistige Prinzip. Stärker noch als bei den beiden anderen Farben, die für den Körper und das Gefühl stehen, benötigen wir für den von Blau repräsentierten »Geist« eine klare Definition. Oft wird Geist mit Psyche gleichgesetzt, wobei diese auch Gefühle einschließt.
Um den Geist von den Emotionen abzugrenzen, definieren wir ihn hier als kognitive Fähigkeit wie Denken, Wahrnehmung, Gedächtnis, Problemlösung und Lernen. Dabei kennt der Geist jenseits seiner Inhalte und Fähigkeiten eine große Anzahl verschiedener Zustände und Verfassungen wie Ruhe, Klarheit und Konzentration oder auch Zerstreuung, Sprunghaftsein etc.
In welchem Zusammenhang stehen nun Bewusstsein bzw. Gewahrsein und Geist? Wir erinnern uns: In der indischen Sankhya-Philosophie entsteht der Mensch durch die Begegnung zwischen Purusha, dem göttlichen Bewusstsein, und Prakriti, dem Wahrnehmbaren. Zunächst entwickelt sich dabei eine Art intuitive Weisheit (Buddhi), in der sich das reine Licht des Bewusstseins erstmals der Welt zeigt. Daraus ergibt sich wiederum das Identifikationsvermögen (Ahamkara), das unterscheiden und trennen kann. Aus dieser Funktion entwickelt sich dann der Geist (Manas), auf den die Empfindungen der Wahrnehmungsorgane projiziert werden, der Entscheidungen trifft und reagiert (Unger/Hofmann-Unger 1999).
Im Folgenden verstehe ich universelles Bewusstsein, wie Brahman im Vedanta oder Purusha in der Sankhya-Philosophie, als Grundlage des persönlichen Bewusstseins, des Selbst (Atman). Universelles Bewusstsein ist der beseelende Stoff, der Materie überhaupt erst erschafft und belebt. Wenn wir universelles Bewusstsein als »das Eine-ohne-ein-Zweites« verstehen, erfahren wir es in uns selbst als das Sein, die Existenz oder, wie oben angesprochen, im »Ich bin«. Dieser Urgrund drückt sich in uns dann weiter als Pulsation (Körper), Mitgefühl (Emotion) und Achtsamkeit (Geist) aus, die sich schließlich untereinander mischen. So steht diese Trinität für einen erfahrbaren Ausdruck des universellen Bewusstseins.
Achtsamkeit ist jener Teil der Wahrnehmung, der vom Wissen begleitet wird, dass wir wahrnehmen. Sie ist frei von Urteil und Bewertung und demnach bewusste, urteilsfreie Wahrnehmung.
Der indische Lehrer Nisargadatta Maharaj sagt: »Durch die uneingeschränkte Akzeptanz von Allem, was möglicherweise auftaucht und somit ganz einfach vorhanden ist, bestärken Sie alles Tieferliegende, an die Oberfläche zu kommen und dadurch Ihr Leben und das Bewusstsein mit seinen eingeschlossenen Energien zu bereichern. Das ist die grenzenlose Wirkung des Gewahrseins« (Maharaj 1996).
Gewahrsein ist das Tor zur transpersonalen Dimension des Geistes (Gemsemer 1997). Denn im Gewahrsein erscheinen uns die Dinge nicht mehr isoliert, sondern als Aspekte des universellen Bewusstseins. Im Dzogchen, einer Tradition des tibetischen Buddhismus, ist Rigpa der Begriff für Intelligenz, die »innerste Natur des Geistes«. Er steht für reines Gewahrsein jenseits aller Begrenzung, durch das man zum Zustand der Allwissenheit und Erleuchtung gelangt. Doch auch diese hohe Form von Intelligenz ist ohne Mitgefühl nicht in der Lage, ihr gesamtes Potenzial zu entfalten.
Wahrnehmung jenseits von Wertung
Wie wir gesehen haben, ist es eine entwickelte Fähigkeit des Geistes, sich über Dinge bewusst zu sein, ohne über sie urteilen zu müssen. Das bedeutet, sie als Ganzes erleben zu können – und damit auch den ihnen innewohnenden Aspekt des universellen Bewusstseins.
Eine andere Fähigkeit des Geistes besteht darin, zu beurteilen und zu werten. Sie teilt die Welt auf in Kategorien wie alt und neu, hilfreich und nutzlos, hässlich und schön etc. Zum Teil handelt es sich dabei um notwendige Orientierungsmuster, die uns helfen, uns in der Welt zurechtzufinden. Je stärker wir aber pauschal wertende Kategorien wie »gut« oder »schlecht« kreieren, umso starrer werden die Identität und Bindung (Samyoga), die daraus hervorgehen. »Gut« oder »schlecht« sind keine Kategorien des Selbst. Das Selbst pulsiert völlig unabhängig zwischen den inneren und äußeren Bedürfnissen.
In Krisen werden solche Bewertungen häufig zu einem dysfunktionalen Wertesystem zusammengefügt. Das bedeutet, dass immer weniger unmittelbar erfahren, betrachtet und gefühlt wird. Stattdessen dominiert ein selektiver Blick, der Menschen und Dinge, Gefühle und Gedanken in Kategorien aus vorgefertigten Meinungen und alten Erfahrungen einsortiert. Die Dominanz solcher »Voreinstellungen« führt zu einer Verformung und Verfärbung der Realität (Cittavritti). Wir sehen die Welt nicht, wie sie ist, sondern durch die Brille unserer vorgefassten Meinungen. Die Gestalttherapie bezeichnet das als »Ego-Prozess«: »Das bin ich, und das bin ich nicht.«
Schwierig wird es, wenn scheinbar »schlechte« Gefühle in uns aufsteigen, die nicht zu unserer »guten« Identität passen. Diese »unpassenden« Seiten werden dann mithilfe verschiedener Abwehrmechanismen vor der eigenen Identität verborgen. Wir entziehen sie unserem Gewahrsein. Allerdings wird unsere Selbst-Wahrnehmung damit unvollständig, und was wir in unserm Inneren nicht kennen, verstehen wir auch nicht in der äußeren Welt. Im ersten Schritt sind wir uns selbst fremd geworden, im zweiten Schritt entfremden wir uns von der Welt. Je länger ein solches (Persönlichkeits-)System existiert, umso starrer und unbeweglicher wird es.
Aus der Perspektive einer integrativen Yogapsychologie steht Sattva nicht für ideale Eigenschaften wie Reinheit und Licht. Sattva steht vielmehr für die geistige Fähigkeit und Bereitschaft wertfreier, achtsamer Wahrnehmung und Erkenntnis.
Weiss: Sat-cit-ananda
Sat-cit-ananda beschreibt im Sanskrit das Wesen von Brahman: die attributlose, unendliche, transzendente Realität sowie den Urgrund von Materie, Energie, Zeit und Raum. Der Begriff setzt sich aus drei Wörtern zusammen:
1 Sat (der Körper – »Rot«) bezeichnet den reinen Zustand des Seins, der Existenz an sich. Sat ist der unpersönliche Ausdruck des Lebens und damit Grundlage jeder Pulsation.
2 Cit (der Geist – »Blau«) bezeichnet das unpersönliche Bewusstsein, das reine Gewahrsein, die Grundlage von Achtsamkeit. Wir erfahren Cit, wenn sich Achtsamkeit in seinem eigenen Licht durchdringt.
3 Ananda