Verkörperter Wandel. Martin Witthöft

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Verkörperter Wandel - Martin Witthöft

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unseren Körper. Er ist die stoffliche Grundlage für unser inneres Erleben, unsere Gefühle, unseren Geist und zugleich eine Brücke in die äußere Welt. Durch die Sinne des Körpers nehmen wir unsere Umgebung wahr und können in Beziehung zu ihr treten.

      Wie können wir lernen, in der Welt, im Außen zu sein, ohne uns selbst zu verlieren? Oder andersherum: Wie können wir für uns selbst da sein und zugleich in Kontakt mit der Welt bleiben? Ganzheitlichkeit schließt immer beides ein. Es ist nicht leicht, diese Gleichzeitigkeit zu denken, aber vielleicht gelingt es uns, sie zu fühlen.

      Genau hier öffnet sich der Weg. Prasava bedeutet Geburt, Ausfaltung, Entwicklung. Während dieser Evolution entfalten sich die Elemente (Gunas) und lassen unser vielgestaltiges Universum erscheinen. Prasava beschreibt die Entstehung des Lebens, der Natur, von uns. Im Tantra werfen wir uns in dieses Leben regelrecht hinein: Bhukti Mukti lässt sich als »Befreiung durch Genuss« übersetzen. So heißt es im ­Vijnana Bhairava Tantra: »Im Glücksgefühl sinnlicher Freude das Denken gestillt – mit solcher Freude eins wird sie zur Seligkeit« (VBT 49). Der Bhogi genießt die Welt und ihre Erscheinungen, er geht eine leidenschaftliche Liebesbeziehung mit ihr ein. Diese Liebe öffnet ihn in das Selbst.

      Der Begriff Pratiprasava steht Prasava gegenüber und beschreibt die Wiedereinfaltung der Elemente, ihre Gegenströmung oder ihren Rückfluss. Pratiprasava steht damit auch für die Vergänglichkeit. Im Yoga oder in der Achtsamkeitspraxis lernen wir, uns zu sammeln, unsere Sinne nach innen zu richten und zu uns zurückzufließen. In dieser Sammlung geben wir unserer Seele die Möglichkeit, tiefgehend zur Ruhe zu kommen.

      Wie Patanjali schreibt, erscheint das Selbst, wenn unsere Psyche zur Ruhe kommt (Yogasutra 1.2). Der fünfte Schritt seines achtgliedrigen Pfades besteht im Zurückziehen unserer Sinne nach innen, um uns aus dieser Sammlung für die Wahrnehmung des Selbst zu öffnen (Yogasutra 2.54, 2.55).

      Entscheidend ist die Pulsation: Wir leben im ständigen Wechsel von Werden und Vergehen, zwischen Prasava und Pratiprasava. Der Körper macht es uns möglich, uns nach der Welt auszustrecken oder uns von ihr zurückzuziehen – und ist zugleich ein Teil von ihr (Boadella 1991). Wilhelm Reich widmete sich in seiner Arbeit Die Ausdruckssprache des Lebendigen ausführlich dem Phänomen der rhythmischen Pulsation als Merkmal von Lebensenergie (Reich 1971).

      Der Biologe Max Hartmann beobachtete bei seinem Studium von Amöben, wie sie sich nach einigen Objekten ausstreckten und von anderen zurückzogen. Selbst im Ruhezustand sind in Amöben winzige, pulsierende Bewegungen zu beobachten (Boadella 1991). Einzeller wie die Amöbe können aus dem direkten Kontakt mit der Umwelt die Energie ziehen, die sie brauchen.

      Mehrzellige Lebewesen benötigen dafür einen zirkulierenden Kreislauf. In der Embryonalentwicklung des Menschen entsteht der Blutkreislauf noch vor dem Herzen. Staguhn schreibt in seinem Buch Das Herz. Ein geheimnisvolles Organ: »Nicht das Herz bewegt das Blut, sondern das Blut bewegt das Herz (…) Der gesamte Organismus ist Herz (…) Damit ist der Organismus nichts anderes als verkörperter Rhythmus, verkörperte Pulsation« (Staguhn 1999).

      Bereits bei wenigen Millimeter großen Embryonen beginnen jene Zellen, die später das Herz bilden werden, rhythmisch zu pulsieren. Sowohl die Herz- als auch die Skelettmuskulatur pendelt nun ein Leben lang zwischen den Polen der Anspannung und Entspannung, der Kontraktion und Streckung. Sie ermöglichen das Heben und Senken von Brustkorb und Zwerchfell wie auch die Pulsation der Atmung. Das nach der Geburt von der Nabelschnur getrennte Leben beginnt mit der ersten Einatmung (Inspiration) und endet im Sterben mit der letzten ­Ausatmung (­Exspiration). Folglich kann der ganze Lebenszyklus als eine große Pulsation verstanden werden.

      Auch bei anderen physischen Prozessen stoßen wir auf dieses Prinzip des Lebendigen. Das peristaltische Pulsieren der Gedärme wird durch Signale der vegetativen Nerven gesteuert. Weiter tragen Hormone zum Pulsationsmuster des menschlichen Körpers bei, indem sie Erregung verstärken oder verringern.

      Auf der individuellen Ebene sehen wir den Ausdruck der Pulsation besonders deutlich im Muskeltonus, da das Spannungsmuster von Muskulatur und Atmung dem »Schwingungsmuster« von Geist und Emotion entspricht (Lowen 1981). Ein gesunder Muskeltonus pulsiert zwischen Anspannung und Entspannung. So entsteht im Anschluss an eine Ruhephase Bewegungsdrang und nach längerer Aktivität das Bedürfnis nach Ruhe und Regeneration.

      Gefühle, wie beispielsweise Angst, können dazu führen, dass sich unsere Muskulatur anspannt. Angst ist eine Warnung vor Gefahr und versetzt unseren Organismus in einen Zustand erhöhter Aufmerksamkeit und Reaktionsbereitschaft. Bei Wut, die ebenfalls zu einer Anspannung unserer Muskulatur führt, bereitet sich der Körper auf einen möglichen Kampf vor. Wenn wir uns hingegen erschrecken, ziehen wir uns zusammen und machen so unsere Angriffsoberfläche möglichst klein. Warme Freude entspannt uns, heiße Freude dagegen macht uns aufgeregt und impulsiv. Eine schlaffe Muskulatur kann der körperliche Ausdruck von Hoffnungslosigkeit sein, während Weinen unseren Körper schüttelt und ihn so von der Spannung starker Trauer oder tiefer Verzweiflung befreit.

      Jedes Gefühl hat also einen entsprechenden körperlichen Zustand. Wir pulsieren folglich nicht nur nach den Mustern unserer vitalen Funktionen, sondern auch mit den Wellen unserer Gefühle (Lowen 1981).

      Alles folgt einem Rhythmus, der zugleich mit dem der äußeren Welt interagiert. Wir leben im ständigen Wechsel von Tag und Nacht, der Jahreszeiten sowie von Leben und Tod. Bei den Gezeiten der Meere variiert mit Ebbe und Flut der Wasserstand, je nach Stellung von Sonne und Mond. Selbst die Sonne pulsiert in unterschiedlichen Frequenzen. Schwingungen aus ihrem Inneren bewegen die Fotosphäre auf und ab, jene Schicht, der das für uns sichtbare Licht entstammt. Pulsation ist ein universelles Prinzip, das uns von innen heraus bewegt und dessen Wellen uns zugleich mit der Welt verbinden. Dabei unterscheiden sich die verschiedenen Rhythmen durch die Länge, Ausdehnung und Intensität ihrer Schwingungen.

      Vor diesem Hintergrund könnte man Gesundheit als ein System definieren, das fähig ist, auf innere Bedürfnisse und äußere Anforderungen ausgleichend zu reagieren (Franzkowiak 2018). So streckt sich der gesunde Körper wie die Amöbe nach dem aus, was ihm guttut, und zieht sich zurück von dem, was ihm schadet. Wenn ein Organismus nicht in der Lage ist, sich seiner Umgebung anzupassen, also angemessen auf sie zu reagieren, wird er krank. So muss er etwa fähig sein, auf Infektionen zu reagieren.

      Bei der Pulsation geht es nicht um die Frequenz der einzelnen Schwingungen, sondern um die Spontaneität und Qualität, mit denen ein neuer Impuls erfolgen kann. Diese regulierenden Wellen sind Grundlage aller Lebensvorgänge und Essenz jeder lebendigen Körperlichkeit (­Keleman 1994).

      Die Pulsation ist ein zentrales Prinzip der Yogapsychologie. Die pulsierenden Schwingungen sind Ausdruck unserer Lebensenergie (Prana). Wie können wir den Kontakt mit ihr pflegen, um stabil, resilient und gesund zu bleiben?

      Pranidhana und Regulation

      Pulsation erfolgt immer innerhalb eines Kontinuums, zwischen schnell und langsam, stark und schwach, gespannt und entspannt etc. Sie ist Bestandteil von zum Teil lebensnotwendigen Regulationsprozessen, die entweder unbewusst ablaufen oder gezielt beeinflusst und harmonisiert werden können. Wenn der Körper in einem Aspekt seines Pulsierens anhält und erstarrt, werden wir krank, oder die Starre an sich ist bereits Ausdruck einer Krankheit.

      Eine mögliche psychologische Ursache für chronisch eingeschränkte Pulsation ist, dass verschiedene als unpassend oder bedrohlich eingestufte Gefühle an ihrer Entstehung und in ihrem Ausdruck gehindert werden. Dies geschieht beispielsweise durch die Kontraktion oder Erschlaffung der Muskulatur. Wilhelm Reich prägte dafür den Begriff der Muskelpanzerung (Reich 1971).

      Auf diese Weise werden etwa Gefühle wie Angst in der Muskulatur

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