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»An diesem Ort vertrete ich das Gesetz«, sagte Gacel mit scharfer Stimme, »und hier gilt nur ein Gesetz!«
Der andere war schon an ihm vorbei, aber Gacel packte ihn mit ganzer Kraft am Unterarm, drehte ihn herum und zwang ihn, ihm in die Augen zu sehen.
»Unsere Überlieferungen sind tausend Jahre alt, aber du zählst kaum fünfzig«, sagte er leise und mit gepreßter Stimme. »Laß meine Gäste in Frieden!«
Der Offizier machte nur eine Handbewegung: mit metallischem Klicken wurden zehn Karabiner entsichert. Der Targi sah, daß die Mündungen der Waffen auf seine Brust gerichtet waren, und er begriff, daß jeder Widerstand vergeblich wäre. Mit einer herrischen Geste schüttelte der Uniformierte die Hand ab, die ihn noch immer umklammert hielt, zog die Pistole, die in seinem Gürtel steckte, und ging geradewegs auf das größte der Zelte zu.
Er verschwand im Eingang, und ein paar Sekunden später ertönte ein trockener, harter Knall. Der Uniformierte kam wieder heraus und gab zweien seiner Soldaten einen Wink. Sie liefen zu ihm hin, gingen hinter ihm her ins Zelt und schleppten den alten Mann ins Freie. Er warf den Kopf hin und her und weinte leise vor sich hin, als wäre er aus einem langen, süßen Traum in die bittere Wirklichkeit zurückgekehrt.
Die Männer gingen an Gacel vorbei und kletterten auf einen der Lastwagen. Der Offizier nahm vorne in der Fahrerkabine Platz. Er starrte Gacel feindselig an und schien um einen Entschluß zu ringen. Schon befürchtete Gacel, daß die Prophezeiung der alten Khaltoum sich nicht bewahrheiten, sondern daß man ihn hier an Ort und Stelle erschießen würde, tief im Herzen der Wüste, doch dann gab der Offizier dem Fahrer des Lastwagens ein Zeichen, und die Fahrzeuge fuhren in der Richtung davon, aus der sie gekommen waren.
Mubarrak, der amahar aus dem »Volk der Lanze«, sprang auf den letzten Lastwagen. Seine Augen waren starr auf den Targi gerichtet, bis er von der Staubwolke verschluckt wurde. Aber in diesen wenigen Augenblicken begriff Mubarrak, was in Gacels Seele vorging. Angst stieg in ihm auf. Es war nicht ratsam, einen amahar vom »Volk des Schleiers« zu demütigen, das war Mubarrak klar. Es war nicht ratsam, ihn zu demütigen und ihn dann am Leben zu lassen. Aber genausowenig wäre es ratsam gewesen, ihn umzubringen und so einen Krieg zwischen Brudervölkern zu entfachen. Gacel Sayah hatte Freunde und Verwandte, die nicht umhingekommen wären, in den Kampf zu ziehen. Das Blut dessen, der nur versucht hatte, den alten Gesetzen der Wüste Geltung zu verschaffen, hätten sie mit noch mehr Blut gerächt.
Gacel selbst blieb äußerlich ganz ruhig. Er blickte dem sich entfernenden Konvoi nach, bis sich Staub und Lärm gänzlich in der Ferne verloren hatten. Erst dann begab er sich ohne Hast zu dem großen Zelt, vor dem sich schon seine Söhne, seine Frau und seine Sklaven drängten. Er hätte das Zelt nicht betreten müssen, denn er wußte bereits, was ihn erwartete. Der junge Mann lag noch genauso da wie bei ihrem letzten Gespräch. Seine Augen waren geschlossen. Der Tod hatte ihn im Schlaf überrascht. Ein kleines, rotes, kreisrundes Loch in der Stirn war die einzige Veränderung, die an ihm festzustellen war. Gacel betrachtete ihn lange mit einer Mischung aus Schmerz und Wut. Dann rief er Suilem zu sich.
»Begrabt ihn!« befahl er. »Und sattelt danach mein Kamel!«
Zum ersten Mal in seinem Leben widersetzte sich der alte Suilem dem Willen seines Herrn: Nach einer Stunde trat er wieder ins Zelt, warf sich Gacel zu Füßen und wollte ihm die Sandalen küssen. »Tu es nicht!« bettelte er. »Du wirst nichts damit erreichen!«
Angewidert trat Gacel einen Schritt zurück. »Glaubst du etwa, ich könnte eine solche Kränkung einfach hinnehmen?« fragte er mit heiserer Stimme. »Glaubst du,ich könnte in Frieden weiterleben, nachdem ich zugelassen habe, daß man einen meiner Gäste ermordet und den anderen fortschleppt?«
»Aber was konntest du dagegen tun?« wandte der alte Suilem ein. »Sie hätten dich auch umgebracht!«
»Ich weiß, doch ich werde mich für diese Beleidigung rächen!«
»Aber was bringt dir das ein?« beharrte der dunkelhäutige Suilem. »Kannst du damit etwa einen Toten zum Leben erwecken?«
»Nein, aber ich werde diesen Leuten beweisen, daß man nicht unbestraft einen amahar beleidigen kann. Das ist der Unterschied zwischen deiner Rasse und meiner, Suilem! Die iklan nehmen Kränkungen und Knechtschaft hin. Ihr seid damit zufrieden, Sklaven zu sein. Das habt ihr im Blut und vererbt es vom Vater auf den Sohn, von Generation zu Generation. Ihr werdet immer Sklaven sein!« Er unterbrach sich und strich gedankenverloren mit den Fingern über die Klinge des langen Schwertes, das er der Truhe entnommen hatte, in der er die wertvollsten seiner Habseligkeiten verwahrte. »Aber wir, die Tuareg«, fuhr er fort, »sind ein freies Volk von Kriegern, und das sind wir immer gewesen, weil wir nie eine
Beleidigung oder Erniedrigung hingenommen haben.« Er schüttelte den Kopf und schloß: »Dabei soll es auch bleiben.«
»Aber die anderen sind in der Überzahl!« widersprach Suilem. »Und sie sind sehr mächtig.«
»Das stimmt«, pflichtete ihm der Targi bei. »Doch es ist gut so. Nur ein Feigling tritt gegen jemanden an, von dem er weiß, daß er schwächer ist als er selbst. Ein solcher Sieg würde ihn nicht edler machen. Und nur ein Dummkopf kämpft gegen einen Gleichstarken, weil dann das Glück den Kampf entscheiden müßte. Ein amahar, ein echter Krieger meines Volkes, sucht sich immer einen stärkeren Gegner. Denn wenn ihm der Sieg lacht, hat sich seine Anstrengung tausendmal gelohnt. Stolz auf sich selbst, wird er dann seinen Weg fortsetzen.«
»Und wenn sie dich töten? Was wird aus uns?«
»Wenn sie mich töten, wird mein Kamel geradewegs ins Paradies galoppieren, wie es uns Allah verheißen hat. Es steht nämlich geschrieben, daß dem die Ewigkeit sicher ist, der im Kampf für eine gerechte Sache fällt.«
»Aber du hast meine Frage nicht beantwortet«, beharrte der Sklave. »Was wird dann aus uns? Aus deinen Söhnen, deiner Frau, deinen Herden und deinen Dienern?«
Gacel zuckte schicksalsergeben mit den Achseln. »Habe ich jemals den Beweis geliefert, daß ich euch alle schützen kann?« fragte er. »Wenn ich zulasse, daß sie einen meiner Gäste umbringen - muß ich dann nicht auch fürchten, daß sie meine Familie vergewaltigen und ermorden?«
Er beugte sich ein wenig vor und forderte den alten Suilem mit einer entschlossenen Handbewegung auf, sich zu erheben. »Geh nun! Sattle mein Kamel und lege meine Waffen bereit!« befahl er. »Ich reite im Morgengrauen los. Du wirst dich darum kümmern, daß unser Zeltlager abgebaut wird, und dann sollst du meine Familie weit fort führen, zum guelta in den Huaila-Bergen, an die Stelle, wo meine erste Frau gestorben ist.«
Schon vor dem Morgengrauen kam Wind auf. Jeder neue Tag wurde von diesem Wind angekündigt. Sein nächtliches Heulen verwandelte sich in bitteres Klagen, bevor eine Stunde später jenseits der felsigen Hänge des Huaila-Gebirges der erste Lichtstrahl den Himmel erhellte.
Gacel lauschte mit offenen Augen. Er betrachtete das Dach seiner khaima mit den altvertrauten Stützpfosten. Im Geist sah er kugelige Dornenbüsche, die vom Wind über Sand und Geröll getrieben wurden, immer unterwegs, immer auf der Suche nach einem Ort, an dem sie sich festkrallen könnten, nach einer endgültigen Heimat, in der sie zur Ruhe kommen könnten und vom ewigen Herumirren quer durch Afrika erlöst wären. Im milchigen Licht des frühen Morgens, das von unzähligen winzigen, in der Luft schwebenden Staubpartikeln gefiltert wurde, tauchten diese Büsche wie Geister aus dem Nichts auf, stürzten sich auf Menschen und Tiere, um sich ebenso schnell, wie sie gekommen waren, in der unendlichen, grenzenlosen Leere wieder zu verlieren.
»Irgendwo muß es eine