Systemische Lerntherapie. Mike Lehmann

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Systemische Lerntherapie - Mike Lehmann Systemische Pädagogik

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verletzend wirken oder von ihnen mehr Reaktionen und Aufmerksamkeit verlangen, als sie ansonsten gegeben hätten. Typische Beispiele wären Wutausbrüche, Anschreien, körperliche Angriffe, Teilnahmslosigkeit, Weglaufen, Anlügen, Verweigerungen, psychische Verletzungen. Unangemessenes Verhalten wird oft auch als »originelles Verhalten« bezeichnet. Der Vorteil dieser Bezeichnung liegt darin, dass nicht etwas Defizitäres oder Schuldhaftes ausgedrückt wird, sondern das Konstruktive im Verhalten gesehen wird. Für gezeigtes Verhalten gibt es immer einen guten Grund, und es hat einerseits eine beziehungsgestaltende Funktion, andererseits stellt es zumeist eine Reaktion auf die Umwelt dar. Wenn das, was das Kind tut, von der Umwelt als unangemessen wahrgenommen wird, hat das Kind einfach keine bessere Möglichkeit zu reagieren. Die Personen in der Umwelt des Kindes finden es unangemessen, weil es nicht ihren Bedürfnissen und Erwartungen entspricht. Für das Kind ist sein Verhalten jedoch richtig und passend, es kommt für die anderen Personen also darauf an, diesen Sinn ebenfalls zu erkennen.

      Ein Kind, das solch ein unangemessen erscheinendes Verhalten zeigt, trägt auch eine Not in sich. Diese Not besteht oft aus Angst oder Unsicherheit, das heißt einem niedrigen Selbstwertgefühl. Die Frage ist nun: Liegt die Ursache für das beobachtete Verhalten letztlich im Kind oder in seiner Umwelt? Je nachdem, wie man diese Frage beantwortet, werden auch die einzuleitenden Maßnahmen ausgewählt. Wir glauben: Die entscheidenden Faktoren sind meistens in der Umwelt des Kindes zu suchen, also im System. Das Modell für die Entstehung vieler Problematiken bei Kindern, das wir vertreten, ist zusammenfassend in Tabelle 1 dargestellt.

       Tab. 1: Modell für die Entstehung unangemessenen Verhaltens

      Mit dem Symptom drückt das Kind eine innere Not aus. Was von anderen als unangemessenes und damit auch unerwünschtes Verhalten angesehen wird, resultiert aus dem Unvermögen des Kindes, besser mit einer als bedrohlich empfundenen Situation umzugehen. Dieses Modell beschreibt den Defizitraum. Es lässt sich genauso auf den Möglichkeitsraum anwenden: In dem Moment, wo sich die Umwelt wandelt und für das Kind andere, positive, konstruktive Erfahrungen bereitstellt, wandeln sich auch Emotionen und Verhalten des Kindes.

      Wenn wir von dieser Voraussetzung ausgehen, wie Probleme beim Lernen oder beim Verhalten von Kindern entstanden sind, leitet sich daraus auch ab, wie anzusetzen ist, damit man helfen kann. Es scheiden diejenigen therapeutischen Methoden aus, die lediglich aus Training mit dem Kind bestehen. Demgegenüber erlangen solche Methoden, die am Umfeld des Kindes ansetzen, eine hohe Bedeutung.

      Im Griechischen bedeutet methodos »Weg«, das heißt, die Methode ist der Weg dafür, ein Ziel zu erreichen. Wenn ich von A nach B will, stellen sich drei Fragen: Erstens – wo starte ich (wie sieht A aus, was gibt es da, was fehlt)?, zweitens – wo will ich hin (was genau kennzeichnet B, was will ich erreichen)?, und drittens – welchen von den möglichen Wegen wähle ich aus, um ans Ziel zu kommen? Für uns spielt eine besondere Rolle, dass die Menschen verschieden sind und es daher nicht die eine Methode gibt, die immer für alle passend ist. »Die Methode« ist daher nicht, alle denselben Weg beschreiten zu lassen, sondern mit jedem Klienten individuell zu sehen, wie ein guter Weg aussehen kann.

       1.2.2Empathie und therapeutische Arbeit

      Damit wir dem Kind helfen können, es begleiten können auf seinem Weg, ist vor allem eines notwendig: Empathiefähigkeit. Sich in das Kind und seine Realität einfühlen zu können, es spiegeln zu können in seinen Nöten, aber auch in seinen Bedürfnissen und seinen Erfolgserlebnissen ist das Wichtigste, das der Therapeut leisten können muss. Dies kann umso besser gelingen, je größer die Bandbreite der Erfahrungen des Therapeuten ist, weil diese eigenen Erfahrungen es erst ermöglichen, den anderen verstehen und sich in seine Wirklichkeit hineinversetzen zu können. Diese Empathiefähigkeit ist die entscheidende Voraussetzung für das Gelingen einer zwischenmenschlichen Beziehung (Belege dafür liefert die neuere Hirnforschung, vgl. z. B. Joachim Bauer 2006). Die Beziehung zwischen Therapeut und Klient wiederum ist der bedeutendste Wirkfaktor in der Psychotherapie (Studien zu dieser Frage wurden z. B. von Grawe 2004, Grawe u. Grawe-Gerber 1999, Wampold et al. 2018, Duncan et al. 2010 sowie von Lambert 1992 durchgeführt). Dies ist genauso für die Lerntherapie anzunehmen, auch wenn sie keine Psychotherapie im engeren Sinne ist, da es bei beiden im Wesentlichen um die Begleitung eines Menschen geht.

      Zwar ist unsere grundsätzliche Perspektive, dass in der lerntherapeutischen Arbeit hauptsächlich beim Umfeld des Kindes anzusetzen ist (bei Eltern, Geschwistern, Lehrern, Nachhilfelehrern, Freunden etc.). Gleichzeitig sind die Problematiken der Kinder jedoch individuell verschieden, ihre spezifischen bisherigen Lebens- und Lernerfahrungen werden sich immer unterscheiden und können sich auch innerhalb der Therapie verändern, ohne dass wir darauf bewusst Einfluss genommen hätten. Manche Kinder haben guten Zugang zu einem bestimmten Entspannungsverfahren und zu einem anderen nicht, zu bestimmten Bewegungsspielen oder -übungen usw. Daher sollte der Therapeut über eine Vielzahl von Techniken, Methoden, Spielen etc. verfügen, um bei der Intervention jeweils etwas Passendes auswählen zu können. Dabei kommt der Empathiefähigkeit eine wichtige Rolle zu, weil sie es ermöglicht, adäquat auf das jeweilige Kind und seine Situation reagieren zu können. Diese Beziehungsfähigkeit ist die wichtigste Voraussetzung, das heißt die Möglichkeit, eine tragfähige zwischenmenschliche Beziehung zum Kind herzustellen. Sie speist sich aus dem Reifegrad der Persönlichkeit, der Empathiefähigkeit und der Bereitschaft zur Selbstreflexion.

      Therapeutische Arbeit kann umso besser gelingen, je besser man die eigenen Themen außen vor lassen kann (empfundene Unzulänglichkeiten, frühere Kränkungen, Bedürfnisse, Ängste, Vorurteile etc. – also insgesamt die Schattenseiten) oder zumindest je mehr man sich ihrer bewusst und in der Lage ist, sie vorübergehend auszuklammern. Kein Mensch ist perfekt, jeder hat an der ein oder anderen Stelle die Möglichkeit, an sich zu arbeiten – das gehört zu unserem Menschsein. Genau die Bereitschaft dazu ist eine der wichtigsten Voraussetzungen, wenn ein Therapeutenberuf angestrebt wird.

      Den Begriff Therapeut verstehen wir im ursprünglichen griechischen Sinne als »Diener« oder »Begleiter«. Als Begleiter auf dem Weg des Lebens, der Entwicklung und beim nächsten gerade anstehenden seelischen Reifungsschritt. Ganz entscheidend dafür ist die Fähigkeit, wahrzunehmen, was das Gegenüber gerade braucht, das heißt menschlich braucht, und darauf adäquat zu reagieren, das heißt, ihm beim Suchen und im besten Fall auch Finden zur Seite zu stehen.

       1.2.3Therapeutisches Selbstverständnis

      Wir befürworten eine therapeutische Haltung, die sich an den zentralen Forderungen des Begründers der Gesprächspsychotherapie, Carl Rogers (vgl. 1994), orientiert: Empathie, Wertschätzung und Authentizität. Über Empathie als wichtigste Grundlage der zwischenmenschlichen Beziehung haben wir im vorigen Abschnitt schon gesprochen. Durch die Wertschätzung des Klienten drückt der Therapeut auch eine Gleichwürdigkeit aus. Zwar besteht in der Therapeut-Klient-Beziehung immer eine durch die Rollen bedingte Ungleichheit, doch darf dies nicht zu Überlegenheitsgefühlen des Therapeuten führen - »Du hast das Problem, und ich habe die Lösung«. Vielmehr liegt in der Wertschätzung, die der Therapeut dem Klienten entgegenbringt, auch eine Akzeptanz seiner Andersartigkeit. Diese ist weder minder- noch höherwertig, sondern stellt lediglich eine andere Form des Seins dar, sodass das, was als problematisch erlebt wird, sowie auch die mögliche Lösung für das Problem aus Klientensicht anders erscheint als für den Therapeuten. Schließlich liegt im Erkennen des Wertes des anderen Menschen implizit auch das Zutrauen, dass er seine Lösungen selbst finden kann. Authentizität als dritte Forderung ist die Voraussetzung für eine echte Begegnung zwischen Menschen. Die therapeutische Beziehung lebt von der Begegnung

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