Opa, erzähl mir!. Markus Zwerger

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Opa, erzähl mir! - Markus Zwerger

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gesellschaftlichen und kulturellen Wertvorstellungen und Deutungsmustern, in denen die Dimension der Vergangenheit mit jener der Gegenwart in einer spezifischen Weise verwoben ist. Erzählte Biografien spiegeln damit immer individuelle und kollektive Verarbeitungs- und Erinnerungsstrategien gleichzeitig wider. Ein besonders eindrückliches Beispiel gibt es dazu in diesem Dialog zwischen Großvater und Enkel.

      Auf die Frage, was denn das Schlimmste gewesen sei, was ihm je widerfahren sei, lautet die Antwort des Großvaters: „Der Faschismus. Der Verlust meiner Kultur, unserer deutschen Identität.“ Eine Antwort, die man in Südtirol sehr oft zu hören bekommt, wenn von dieser Zeit die Rede ist, auch wenn man sich fragen kann, was „der Verlust der Identität“ für einen Buben, der 1939 gerade elf Jahre alt war, bedeutet haben könnte. Auch der Enkel ist nicht ganz zufrieden mit der Antwort.

      Die Nähe, ja zärtliche Vertrautheit, die zwischen den Gesprächspartnern herrscht, ermöglicht es schließlich, auch über schwere Verletzungen zu sprechen, die verdrängt und verschüttet sind. Eine Missbrauchserfahrung, die hier vielleicht zum ersten Mal erzählt wird, kommt aus der Verdrängung und hinter dem Schleier der kollektiven Unterdrückung durch den italienischen Faschismus hervor.

      An dieser Stelle drängt sich natürlich die Frage auf, wie sehr die Lebensgeschichten einer bestimmten Generation durch eine kollektive Geschichtserzählung geprägt und zum Teil auch verbogen werden. Insofern erstaunt es dann auch nicht sehr, wenn der Großvater als eine seiner schönsten Erfahrungen den Einmarsch der Nationalsozialisten in Südtirol im September 1943 anführt. Auch diesbezüglich würden ihm viele seiner Generation zugestimmt haben – und ebenso zur Aussage, dass es wieder einmal einen Krieg bräuchte. Der Enkel nimmt auch hier eine gewisse Distanz ein, die er zum einen auf sein erworbenes historisches Wissen zurückführt. Zum anderen wird der stille, aber dezidierte Einspruch des Nachbarn Leo, einige Jahre älter als Großvater Arthur, in die Erzählung eingeführt: „Nein. Nein. Einen Krieg braucht es nie mehr!“ Es gibt immer mehrere Perspektiven auf die Vergangenheit.

      Immer wieder taucht in diesem intergenerationellen Dialog auch die Großmutter auf, die zu bestimmten Ansichten des Großvaters durchaus andere Meinungen und Einschätzungen äußert. Dass ihre Stimme nur im Hintergrund bleibt, auch das ist Teil des kollektiven Gedächtnisses. Ein Gedächtnis, das den Erinnerungen von Männern tendenziell mehr Gewicht zuweist als jenen von Frauen, weil Erstere ihr Leben eher an politische Ereignisse binden, oft sogar – wie in diesem Fall – es dahinter verstecken. Nicht zuletzt auch deshalb, weil die Frauen selbst ihre Erfahrungen für unwichtig halten. Es braucht mehr Enkelinnen, die die Geschichten ihrer Großmütter für wichtig genug halten, um sie aufzuschreiben.

       Für dich, Opa

      Prolog

      Der würzige Geruch von Wurst liegt in der Luft. Auf dem Herd steht ein Topf mit Suppe, der Tisch ist für das Abendessen gedeckt: In der Mitte steht ein Teller voller Käse, auf einem zweiten Teller findet sich Aufschnitt, und Schüttelbrot ist auch zur Genüge da. Ein dampfender Topf voller Erdäpfel vervollständigt das Bild. Karin sieht nach der Suppe und stellt fest, dass auch diese bereit ist. „Essen kommen!“, ruft sie, und erhält sogleich die Antwort ihres Vaters und ihrer Kinder. Diese halten sich noch im Wohnzimmer auf, wo sie zusammen fernsehen, während im Hintergrund ein beständiges „tick-tock“ erklingt. Eine Wanduhr hängt vor dem Erker des Hauses, und ihr Pendel schwingt gleichmäßig hin und her. Arthur stört sich nicht an ihrem Geräusch, im Gegenteil: Diese Uhr soll nicht aufhören zu ticken, wenn er im Haus ist, und immer dann, wenn sie verstummt, heißt es sogleich: „Die Uhr isch aufzudrahnen!“ Dies wird dann schnell von jemandem erledigt, sodass Arthur den wohlbekannten Ton nie missen muss. Langsam erhebt er sich also vom Sofa, geht zusammen mit den Kindern in die Küche und setzt sich an seinen Platz am Kopfende des Tisches. Karin nimmt den Suppentopf vom Herd und verteilt die Suppe gleichmäßig auf die fünf Teller. Sie stellt den Topf auf den Tisch, als die Haustür aufschwingt und ihr Ehemann Peter hereintritt. In seiner Hand hält er einen Krug voller Wein, den er gerade aus dem Keller geholt hat, und schenkt Arthur ein. „Hohoho, des woll hon i gern! Vergelt’s Gott!“ Er nimmt einen kräftigen Schluck und setzt das Glas vor sich ab. Peter stellt den Krug neben Arthur hin und setzt sich ebenfalls an den Tisch. Sowie nun alle sitzen, wird das Schüttelbrot herumgereicht, mit einem Löffel zerschlagen und in die Suppe gegeben. Anfangs ist alles ruhig, man hört nur, wie die Löffel auf die Teller stoßen und im Hintergrund ein dumpfes Ticken erklingt. Aber es dauert nicht lange, bis Arthur die Stille durchbricht. Dabei blickt er in seinen Teller, lächelt zufrieden und sagt: „Na isch des a guate Supp’!“ „Fein, dass sie dor schmeckt, Tata!“, antwortet Karin, worauf Arthur bestätigt: „Jo, gonz guat! So a guate Supp’ hon i net oft ghob, und i hon schun viele Suppen gessen! Na i hon überhaup schun viele Sochen gessen, und viel erleb hon i ah!“ Kopfschüttelnd formt sich langsam ein Lächeln auf seinem Mund, und plötzlich beginnt er lauthals zu lachen. „Jo, erleb hon i viel, Guates wia Schlechtes, und ba jeden Bledsinn bin i dorbeigwesen! Jetzt follt mor eppes in! Hahaha!“ Amüsiert lacht Arthur vor sich hin, während seine Enkelkinder ihn verwundert ansehen und ihn drängen: „Wos isch so lustig, wos isch dor grod eingfollen? Erzehls ins bitte!“ Nach einer längeren Pause, in der Arthur sich erst von seinem Lachanfall beruhigen muss, beginnt er, enthusiastisch zu erzählen. Es folgen einige Minuten gewandten Erzählens, in denen sich auf seinem Gesicht eine Vielzahl an fröhlichen Ausdrücken formt, dann ist er am Ende der Geschichte angelangt. Die Zuhörer lächeln und haben mindestens ebenso viel Freude an der Geschichte wie Arthur selbst, der noch eine Zeit lang kopfschüttelnd die Erinnerung genießt. Dann schließt er seine Erzählung mit den Worten: „Erlebt habe ich wirklich viel! Ein Leben lang gearbeitet, immer versucht, mit jedem gut auszukommen. Nach all den Jahren bin ich hier, noch immer hier, an diesem schönsten Ort. Wo könnte ich es schöner haben als hier, umgeben von Menschen, denen ich etwas bedeute, in einem Haus, welches Oma und ich allein mit harter Arbeit aufgebaut haben. Ein unvergleichlicher Reichtum, für den ich ewig dankbar sein werde. Es macht mich so unglaublich glücklich, eine Heimat wie diese zu haben!“

      Es ist für mich als Enkel schön zu hören, dass der eigene Großvater, mit dem man schon seit jeher unter einem Dach wohnt, dermaßen zufrieden mit seinem Leben ist. Und ganz besonders schön ist es, dass ich an diesem Erfahrungsreichtum, den er in über neunzig Jahren auf dieser Erde gesammelt hat, teilhaben darf. Das ist ein Privileg ohnegleichen, weshalb in mir im Laufe der Jahre der Wunsch herangereift ist, all seine Geschichten zu hören und sie festzuhalten, damit nicht nur ich mich daran erfreuen kann und davon bereichert werde, sondern ebenso all jene, die gleichermaßen zu schätzen wissen, was das Leben einen Menschen im Laufe der Zeit alles lehren kann.

      Aus diesem Grund habe ich beschlossen, diese Biografie zu verfassen, und Momente wie dieser, in denen Opa Arthur auf solch ergreifende Art von Zufriedenheit durchströmt ist, bieten sich bestens dafür an, Fragen zu stellen. Um sein Leben besser verstehen zu können. Und um mein Leben besser angehen zu können.

      Während er also dankbar auf alle blickt, die an diesem Tisch sitzen, drängt sich mir eine Frage auf: „Du sprichst immer von Heimat, was genau verstehst du aber darunter? Was bedeutet Heimat für dich?“ Einige Augenblicke vergehen, Arthur denkt über die Frage nach. Kurz darauf hat er eine Antwort parat: „Über Heimat könnte ich dir viel erzählen – überhaupt könnte ich mit meinen Erlebnissen ein ganzes Buch füllen. Ich hatte als Kind nämlich keine richtige Heimat. Die wäre bei meiner leiblichen Mutter gewesen, allerdings hat sie mich nach zehn Tagen weggegeben, losgelassen, verschenkt. Deshalb ist Heimat für mich der Platz, an dem meine Familie ist, gleichwohl aber ein Ort, an dem ich mich wohlfühle, sowie ein Gefühl, das meine Erinnerungen beherbergt.“

      Dass mein Opa, Jahrgang 1928, in seinem Südtiroler Dialekt so differenziert von Heimat gesprochen hat, stimmt wohl nicht ganz, doch aus den Gesprächen, die ich in all den Jahren mit ihm führen durfte, habe ich diese drei Arten von Heimat herausgehört. Das bezieht sich auf das gesamte Buch: Es ist das Produkt aus fast zwei Jahrzehnten an Gesprächen mit ihm und folglich keine bloße

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