Opa, erzähl mir!. Markus Zwerger
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Opas Auffassung von Heimat – als Ort, als Gefühl und als Mensch – prägte ihn und unsere ganze Familie. Die Abgrenzungen zueinander sind jedoch nicht strikt, eine Form der Heimat geht fließend in die nächste über, man kann sie nicht voneinander abtrennen. Denn Heimat ist so viel mehr als nur ein Wort – und manchmal kann ein kleiner Teil von ihr zwischen zwei Buchdeckeln aufbewahrt werden.
Familie
„Ich bin unendlich dankbar dafür,
dass ihr, meine Familie, euch alle so
gut versteht und mich gernhabt!“
„Arthur“. Wie kaum ein anderer Name bedeutet er Stärke, Zähheit und Festigkeit: Er ist keltischen Ursprungs, eine wörtliche Übersetzung lautet „der Bärenstarke“. Der Bär ist auch jenes Tier, das mein Opa, Arthur Dalsass, am ehesten verkörpert. Opas Entschlossenheit und Widerstandsfähigkeit, einhergehend mit der Zärtlichkeit, mit der er seine Nachfahren stets gehütet hat, machen ihn zu dem, der er an diesem 3. Juli 2018 ist: ein stolzer, zufriedener Mann. Keineswegs hochnäsig, obwohl er wie kaum ein anderer Schwierigkeiten durchgestanden hat, auf die er überaus stolz sein könnte. Stolz ist er auf einige Dinge dennoch ganz besonders:
„Das größte Glück, das mir zuteilgeworden ist, ist meine Familie. Als ich in diese Welt gekommen bin, war das nicht zu erwarten. Eine eigene Familie oder ein glückliches Dasein hätte mir damals wohl niemand prophezeit. Ich bin nämlich schon bei meiner Geburt mit einem gewaltigen Gewicht beladen worden – wegen meiner Geburt und ihren Umständen. Aber meine Zukunft habe ich zu beeinflussen verstanden. Sodass ich heute mit euch allen feiern kann! Das erfüllt mich zutiefst. Vor allem wenn ich bedenke, dass eure Oma Rosa und ich das alles alleine aufgebaut haben! Oder wenn ich an all die Herausforderungen denke, vor die das Leben mich gestellt hat. Ich kann es kaum glauben …“
Opa schüttelt immer wieder ungläubig den Kopf. Seine Geschichte beeindruckt ihn gewissermaßen selbst. Zuhörer begeistert sie meist genauso. Mir gehen seine Geschichten so nahe und ich durfte ihnen bisher so oft lauschen, dass ich sie fast mitsprechen kann. Ich habe das Glück, im selben Haus wie Opa zu wohnen; die täglichen Gespräche weckten in mir das Bedürfnis, seine Geschichte auf Papier zu bannen, damit sie nicht dem Vergessen anheimfällt.
„Als ich zehn Jahre alt war, sah ich meine leibliche Mutter zum ersten Mal, meinen leiblichen Vater habe ich nie kennengelernt. Deshalb wollte ich eine eigene Familie gründen. Das ist mir – uns – ziemlich gut gelungen, wenn auch nicht immer alles reibungslos gelaufen ist. Ja, für seine Familie empfindet man große Liebe – so wahrhaftig diese Liebe ist, so tief kann sie einen auch verwunden. Zu dieser schmerzlichen Einsicht führte uns unsere geliebte Rosmarie, die uns nach zwanzig Monaten bereits verlassen musste. So ist das Leben nun mal. Wer sich damit abfindet, der kann ein gutes Leben führen. Wer sich der Liebe trotzdem nicht verschließt, der kann Zufriedenheit erlangen.“
Kennt man Opas Erzählungen aus seinem Leben, kann man wahrscheinlich nachvollziehen, dass er stolz ist. Diesen Stolz, verbunden mit berührender Dankbarkeit, zeigt er oft und gerade an diesem Tag. Der Stolz beflügelt ihn regelrecht. Es ist nämlich sein neunzigster Geburtstag. Gefeiert von seinen achtundzwanzig engsten Familienmitgliedern (die Feier mit den hundert Bekannten folgt eine Woche darauf) flackert die Jugend erneut in ihm auf: Voller Frohsinn erzählt er Etappen seiner Lebensgeschichte, voller Erfüllung betrachtet er sein Werk. Zusammen mit seiner verstorbenen Ehefrau hat er den Grundstein für eine Großfamilie gelegt, von der er als Kind nur träumen durfte. Großfamilie? Er träumte damals nicht von einer Großfamilie, sondern von einer einfachen Familie, in deren Geborgenheit er Teil der Gesellschaft gewesen wäre. Doch dieser Wunsch blieb ihm verwehrt. Und so schuf er seine eigene Familie. Anfangs wohl unsicher, wie er diese Aufgabe angehen sollte, aber sehr wahrscheinlich bedenkenlos, weil er schon immer ein Mann der Tat und nicht des Zweifels war. Die Aufgabe „Familienvater“ bewältigte er bravourös. Als Autodidakt lehrte er seine Nachkommen das Wichtigste in einer Familie: Zusammenhalt.
„Es lässt meine Brust anschwellen, wenn ich euch alle beobachte und sehe, wie fest ihr zusammenhaltet. Und davon bin ich der Ursprung. Es überwältigt mich immer wieder!“
Nach dem Essen erhebt meine Schwester Martina ihre Stimme, um Opa laut und vor allen ein selbst verfasstes Gedicht vorzutragen.
Vor neunzig Jahren war von uns noch niemand da,
als etwas ganz Besonderes geschah:
Der kleine Arthur erblickte das Licht der Welt,
mit fünf Kilo Gewicht, aber ganz ohne Geld.
Man meint, ohne Geld kommt man nicht weit,
doch nach zehn Tagen war es dann Zeit,
Deutschnofen war dein nächstes Ziel,
mit dem Briefträger war das ein Kinderspiel.
Beim Bauer hütetest du Schaf und Kuh,
in der Schule sah man dich auch ab und zu,
fleißig warst du – vor allem beim Raufen,
konntest dir als Beschützer der Reichen neue Hosenträger kaufen.
Als Strafe neben Mädchen zu sitzen war ganz nach deinem Sinn,
„Die wissen ja, dass ich der ‚Kittelschmecker‘ bin“,
doch angetan hat’s dir ganz besonders eine –
Rosa hieß sie, und wurde die Deine.
Der Hochzeitstag kam – doch der Blinddarm plagt,
geheiratet wird dann wohl an einem anderen Tag.
Schließlich war auch das vollbracht,
und endlich kam die Hochzeitsnacht.
Schlecht wart ihr nicht darin,
Cristina, Martin, Patrizia, Karin
gingen hervor und wuchsen heran,
ein Ergebnis, welches sich sehen lassen kann!
Mit dem Lastwagen besuchtest du Land und Leute,
und das wissen wir alle heute:
Sie lernten dich als Arthur kennen,
doch du wolltest, dass sie dich „Zigeuner“ nennen.
Ans Meer, in die Berge und auch nach Amerika rüber,
die