Opa, erzähl mir!. Markus Zwerger
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Diesen letzten Satz betont er bewusst provozierend. Er weiß, dass dies heutzutage kaum mehr vorstellbar wäre, dass sich die gesellschaftlichen Normen geändert haben. Aber manche dieser Normen, wie die akkurate Körperpflege, leuchten ihm nicht ein. Und da er als junger Mann solchen Normen überhaupt nicht Rechenschaft getragen hätte, will er das dem Zuhörer unter die Nase reiben. Es wäre ihm egal gewesen, weil es in seinen Augen noch immer nicht nötig ist, nichts mehr als unnützer Zeitvertreib. Je älter er wird, desto radikaler wird er in dieser Hinsicht. Fast so, als ob er sich immer weiter zurückerinnern würde und die damalige Realität mit der heutigen Gegenwart vermischte. Es will ihm halt einfach nicht einleuchten, weshalb er es niemals verpasst, in dieser Diskussion Seitenhiebe auf die „verwöhnte“ Gesellschaft auszuteilen.
*
„Einzuleben tat ich mich auch nicht schwer, denn es fühlte sich alles sehr heimelig an und ich wurde zu einem richtigen Bauern ausgebildet. In dieser Zeit wurde ich mir meines Wunsches bewusst, eines Tages auch mal einen Bauernhof zu besitzen. In jungen Jahren ging mein Eigentum jedoch nie über einige Tiere hinaus, die meine Handelswaren darstellten. Nicht nur darauf lag meine Perspektive in dieser Zeit: Wie es das Schicksal so wollte, kamen Rosa und ich uns durch tägliche Gespräche und die gemeinsame Arbeit stets näher. Mehr als Freundschaft war es in den ersten Jahren unserer Bekanntschaft eigentlich nicht – mit Ausnahme einer einzigen Episode:
Eines Abends trafen wir uns zufällig auf der Treppe, die ins Obergeschoss führte, und fühlten uns unbeobachtet. Da wusste ich, was zu tun war. Du musst wissen, ich habe nicht, nie, geschlafen! Ich beugte mich also vor und gab ihr einen Kuss auf die Stirn. Obwohl er nur von kurzer Dauer war, freute sich Rosa über den Kuss. Womit wir beide nicht rechneten: Karl hatte uns gesehen. Er zögerte nicht lange, schritt auf Rosa zu und ohrfeigte sie. Das ließ ich mir nicht gefallen, deshalb packte ich ihn mit beiden Händen am Kragen und drohte: ‚Tu ihr nochmal was an und ich verprügle dich!‘ Wenn er auch der Bauer war, so wollte ich nicht einmal von ihm alles dulden! Im Grunde genommen war ja seine und Rosas Mutter die Chefin auf dem Hof. Ansonsten bin ich mit ihm immer gut ausgekommen. Ich war ein fleißiger Arbeiter und Karl ein netter und gerechter Bauer. Er begegnete mir stets auf Augenhöhe. Nachdem ich mich hier eingelebt hatte, begann er mich öfters zu fragen: ‚Arthur, was tun wir denn heute?‘ Er wollte stets meine Meinung wissen, weil ich eine Ahnung hatte von dem, was ich tat. Wie gesagt, bereitete mir die Landwirtschaft große Freude und geschickt stellte ich mich auch noch an. Unser Verhältnis war von Vertrauen geprägt, Karl zögerte nicht einmal, mich mit dem Vieh allein auf den Jahrmarkt zu schicken, damit ich es dort verkaufen würde. Da ging es um viel Geld, und ich enttäuschte ihn nie!“
Von den Freiheiten, die wir heute für selbstverständlich erachten, wagte man damals nicht einmal zu träumen. Mit einer solchen Reaktion, wie Karl sie an den Tag legte, musste man rechnen, wenn man, wie Rosa und Arthur, es wagte, die Stände zu durchbrechen oder überhaupt eine solch „unsittliche“ Handlung zu begehen. Was der genaue Grund für Karls Reaktion gewesen sein mag – Arthurs niederer Stand oder das unangebrachte Verhalten der beiden –, kann man nur erahnen.
„Auf dem Obernock ist es mir gut ergangen. So gut, dass ich nebenbei Zeit zum Handeln hatte – was ich übrigens immer schon gern getan habe. Dadurch konnte ich mir eine Kleinigkeit zusammensparen und ich wusste von Beginn an, wofür ich das Geld verwenden wollte. Also ging ich eines Winters in einen Tauschladen und besorgte mir Ski einer sehr bekannten Marke. Ich war bis dahin noch nie Ski gefahren, weswegen ich es unbedingt einmal versuchen wollte. Sofort machte ich mich zum Obernock auf, wählte eine abfallende Wiese aus und stieg auf die Ski. Ich hatte überhaupt keine Ahnung, was ich da tat, aber mich deshalb zu fürchten, wäre mir nicht eingefallen. Unbekümmert fuhr ich los und wurde schneller und schneller. Ehe ich mich versah, tauchte ein Baum vor mir auf, doch es war mir unmöglich, zu bremsen oder auszuweichen. Also fuhr ich geradewegs in den Baum hinein. Da bin ich umgefallen, der Baum aber ist stehen geblieben. Mit Schmerzen im Fuß kroch ich auf allen vieren zum Hof zurück, wo mir geholfen wurde und ein Arzt feststellte, dass mein Fuß gebrochen war. Sobald ich wieder laufen konnte, verschenkte ich die Ski. Ich wollte nichts mehr davon wissen und bin auch später nie wieder auf die Bretter gestiegen.“
*
„Erlebt habe ich auf dem Obernock viel. Hier bin ich zu einem Mann gereift und habe vieles gelernt. Es fühlte sich wie eine Heimat an. Vor allem Rosas Mutter, die ebenfalls Rosa hieß, hatte mich gern. Sie war die Entscheidungsträgerin auf dem Hof, weil ihr Gatte schon früh verstorben war. Sämtliche Geschäfte wurden von ihr geleitet und organisiert. Ja, sie mochte mich sehr.“
Es scheint mir, als habe Opa in dieser Zeit Orientierung gefunden. Dazu trug wohl Rosas Interesse an ihm bei, aber auch die Aufmerksamkeit, die ihm von den weiteren Familienmitgliedern entgegengebracht wurde. Vielleicht stellt der Obernock den ersten Ort dar, an dem er sich nicht allein fühlen musste, an dem er keine Angst zu haben brauchte, weil er mittlerweile alt und erfahren genug war, um sich notfalls zur Wehr zu setzen. Bei Beschreibungen vom Obernock hatte ich stets das Gefühl, dass er sich zum ersten Mal seit dem Verlassen des Mösl wahrlich zu Hause fühlte. Die Aufenthalte an all den anderen Orten beschrieb er meist bloß mit den Adjektiven „gut“ oder „schlecht“, um dann eine unterhaltsame Anekdote folgen zu lassen und sich im Erzählen eines anderen wichtigen Lebensereignisses zu verlieren. Beim Obernock hingegen wechselte er nie das Thema, sondern sprach immer wieder gern darüber und gab jedem zu verstehen, wie viel ihm der Ort samt seinen Bewohnern bedeutete. Als Sprungbrett für sein späteres Leben. Als Schule für seinen Geist voll des Tatendrangs. Als Heimat für seine verlassene Seele.
Für zwei Jahre jedenfalls. Als Neunzehnjähriger erhielt er ein Arbeitsangebot von seiner Ziehschwester in Bozen. Er sollte als Magazineur für ihre beiden Gasthäuser arbeiten. Aus Verdienstgründen nahm er das Angebot an und zog – den Obernock im Herzen – nach Bozen. Die Zeit hier wusste er zu nutzen: Vom gesparten und durch Handelsgeschick erwirtschafteten Geld der letzten Jahre sowie von seinem mageren Verdienst – er arbeitete hauptsächlich für den Lohn der Verköstigung – finanzierte er sich den Führerschein.
„Untertags arbeitete ich als Magazineur der beiden Gasthäuser der Familie Plattner, abends besuchte ich ein Jahr lang die Fahrschule. Anschließend trat ich zur Prüfung an: Zuerst musste ich dem Prüfer theoretische Fragen mündlich beantworten. Um nicht zu riskieren, vor Nervosität den Faden zu verlieren, war es damals üblich, sich vor der Prüfung mit Schnaps Mut anzutrinken. Ein Stamperle wirkt da Wunder! Direkt nach Bestehen der theoretischen Prüfung ging es über zum praktischen Teil. Da hatte ich keine Probleme, so bekam ich bald darauf das ‚Patent‘