Opa, erzähl mir!. Markus Zwerger
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Читать онлайн книгу Opa, erzähl mir! - Markus Zwerger страница 6
„Der Oberkofl. Gut und genug zu essen und endlich keine Schafe mehr zu hüten! Das war keine Aufgabe für einen Knecht, wie ich einer geworden war. Mir wurden andere, verantwortungsvollere und schwerere Arbeiten aufgetragen. So half ich etwa beim Backen, genauer: beim Rühren des ‚Mitten‘ [Mehl-Wasser-Mischung in einem Holzfass], denn das war eine Arbeit, die für die Bäuerin zu anstrengend gewesen wäre. Ja, Knecht war ich! Diese Bezeichnung macht etwas her, nicht? Stolz ging ich jeden Tag an die Arbeit und erledigte sie so gut wie möglich! Nach zwei Jahren, ungefähr mit sechzehn, zog ich dann wieder um, diesmal ging es zum Köchel. Die Situation dort war wenig angenehm, weil das Essen schlecht war und mehrere Frauen gleichzeitig das Sagen hatten, nur nicht die Bäuerin. Doch auch hier war ich Knecht und es war insgesamt erträglich. Ich teilte mir ein Zimmer mit zwei anderen Knechten und musste hauptsächlich die Äcker pflügen, Holz und Heu transportieren oder mich allgemein um den Hof kümmern. Was ein Knecht halt so macht …“
Ich muss an dieser Stelle gestehen, dass die letzten zwei Episoden nicht so ganz in die Thematik des Kapitels zu passen scheinen. Schließlich soll es um den Wohnort gehen, der zur Heimat geworden ist. Dennoch spreche ich fast ausschließlich von dem Titel, den Arthur trug. Aber ist es nicht so, dass sowohl der Heimatort als auch dieser Titel dieselbe Aufgabe erfüllen können? Sind sie nicht gleichermaßen identitätsstiftend, was meines Erachtens eines der wohl prägendsten Merkmale von Heimat ist? Obschon Arthur zu Beginn seines Weges, also auf dem Mösl oder dem Unterkofl, den jeweiligen Ort als Heimat definiert hat, beginnt er nun unbewusst diese weite Auslegung von „Heimat“ anzunehmen. Denn weder gefiel es ihm beim Oberkofl übermäßig noch wurde er dort glücklich, was die Bezeichnung Heimat in meinen Augen rechtfertigen würde. Genauso wenig beim Köchel. Nein, die Wichtigkeit dieser Orte liegt einzig und allein in der Bezeichnung, die Opa ab sofort tragen durfte: Knecht. Sie schenkte ihm eine Identität, er fühlte sich dem Hof zugehörig, da es bestimmte Aufgaben gab, die ihm anvertraut worden waren und niemandem sonst. Diese Orte sind für ihn Heimat, weil sie ihm die Richtung wiesen, seinem Leben Sinn schenkten. Und der Köchel sollte zukunftsweisend werden:
„Eines Tages ging ich im Auftrag der Bäuerin ‚Streb [Einstreu] zomrechnen‘, also im Wald einen Strohersatz aus Blättern und allerlei herabgefallenen Baumresten sammeln, der dann auf einem ‚Grieg‘ genannten Wagen von Ochsen in den Stadel gezogen wurde. Durch die jahrelange Übung fiel mir die Arbeit nicht sehr schwer, weshalb ich den nahenden Besuch auch gleich erblickte: Das schönste Mädchen von Deutschnofen, Rosa Riegler, genannt Nocker Resel, kam vorbei, sie war gerade auf dem Weg ins Dorf. Ich kannte sie aus der Schule, aber wir besuchten nicht dieselbe Klasse, sie war nämlich drei Jahre älter als ich. Deshalb hatte ich vorher nie etwas mit ihr zu tun gehabt, außer ein einziges Mal, als wir einen Handel trieben. Ach Gott, hat sie mich da betrogen! Haha. Das muss ich dir zuerst erzählen:
Damals besaß ich einen Hasen, ein Prachtexemplar, den Rosa haben wollte, um Nachkommen zu züchten. Sie sprach mich auf ein Tauschgeschäft an: Ich sollte ihr den Hasen überlassen, sie würde mir dann mehrere kleine dafür geben. Nachdem ich ihn ihr gegeben hatte und nach einigen Tagen meinen Teil einforderte, war ich sehr überrascht, dass sie mir nur zwei sehr kleine Hasen gab. Ich wollte mich wehren, doch war sie in Begleitung mehrerer junger Knechte, die allesamt zu ihr hielten. So war ich gezwungen, ohne ein Wort des Widerspruchs das mich benachteiligende Geschäft anzunehmen, mein Hase war sowieso schon längst bei ihr.“
Wenn er heute von dieser Begebenheit erzählt, lächelt er und trägt ihr nichts nach:
„Sie hat mich zwar betrogen, aber sie war ein wunderbares Mädchen.
Kommen wir zurück zur Begegnung mit Rosa im Wald. Ich wusste es zwar noch nicht, aber das Nachfolgende sollte unser beider Leben für immer prägen. Sie war eine Tochter der Obernocker Bäuerin, die Jüngste von neunzehn Kindern, und dementsprechend gewieft. Ohne zu zögern, sprach sie mich an: ‚Arthur, sag, gefällt es dir beim Köchel?‘ Ich verneinte dies entschieden, und so wagte sie den Vorstoß: ‚Hättest du nicht vielleicht Lust, zu uns auf den Obernock zu kommen und dort als Knecht zu arbeiten?‘ Ich zögerte keine Sekunde und stimmte zu. Wie hätte ich ein solches Angebot, unterbreitet vom wunderschönen Resel, ausschlagen können? Sie nahm die Antwort zur Kenntnis, verabschiedete sich und ging ihres Weges. So wurde ich, hoffnungsvoll und gespannt, zurückgelassen, doch bevor es so weit war, musste mich noch Rosas dreizehn Jahre älterer Bruder, der Bauer Karl, darauf ansprechen. Rosa diente nur als Vermittlerin, die Entscheidung lag bei ihm.
Glücklicherweise bekam ich rasch die Antwort. Schon nach einigen Tagen, an einem Sonntag nach der Messfeier, bot Karl mir an, als Knecht auf seinem Hof zu arbeiten. So kam es, dass ich mich im Alter von siebzehn Jahren wieder vom Köchel verabschiedete. Mit nur wenigen Kleidern im Gepäck war der Umzug nicht schwer.“
Der Umzug zum Obernock stellte eine weitreichende Veränderung dar: Mit rund achtzig Hektar Fläche war er einer der größten Höfe Deutschnofens, dementsprechend gut erging es meinem Opa dort. Der damalige Wohlstand kann aber keineswegs mit dem heutigen verglichen werden, denn obgleich der Besitz ansehnlich war und niemand Not litt, wurde gespart wie in Krisenzeiten:
„Gut erging es ihnen schon, im Überfluss lebten sie nicht. Klar, wenn jemand etwas brauchte oder haben wollte, konnten sie es sich erlauben, das kam jedoch nicht sonderlich oft vor. Hunger leiden musste niemand, was mich sehr beruhigte, zudem gab es stets genug Arbeit, die mich erfüllte, und alle Bewohner waren sehr nett zu mir. Dieser Umzug war das wohl größte Glück in meinem jungen Leben. Selbstverständlich war nicht alles schön, aber damit fand ich mich bereitwillig ab. So teilte ich mir das Schlafzimmer mit Luis, einem Verwandten Rosas, der schon sein ganzes Leben auf dem Hof lebte und einzig das Arbeiten im Kopf hatte. Nie hatte ich mit ihm irgendwelche Auseinandersetzungen, ein gutes Verständnis war mir immer wichtig und trug auch zu einem besseren Arbeitsverhältnis bei. Das stellte also kein Problem dar. Das Zimmer an sich schon. Es lag an einem Ende des Hauses, weshalb es im Winter darin sehr kalt werden konnte. Als hätte das nicht genügt, war außerdem ein Fenster kaputt, was der Kälte zusätzlich Eintritt bot. Im Winter wurde es bitterkalt, meist so kalt, dass sich an den Mauern hoher Reif bildete, in den wir dann zeichneten. Die Matratze, auf der ich schlief, war, genauso wie die aller Knechte und Bauerskinder, nicht mehr als ein Strohsack. Daran war ich gewöhnt, da dies bei meinen vorhergehenden Wohnorten ebenfalls so gewesen war. Das hätte mich keineswegs gestört, wären nicht unzählige Läuse und Flöhe darin heimisch gewesen. Die Nächte wurden dadurch häufig sehr unruhig. Aber man akzeptierte das gleichgültig, schließlich war es bei jedem so, außer beim Bauernpaar. Sie verfügten über eine Matratze, hatten im Zimmer sogar einen Ofen stehen und zogen sich um, um zu Bett zu gehen. Ja, ein Nachthemd besaßen sie! Wir Knechte wussten nicht einmal, was das sein sollte. Ein Nachthemd.“
Bei solchen Gesprächen überfällt mich immer wieder dieselbe Erkenntnis: Der Reichtum, in dem wir heute leben, ist unverhältnismäßig und bizarr. Wir täten wohl gut daran, uns ein Beispiel an der Lebensweise jener Menschen zu nehmen, die maßgeblich dazu beitrugen, dass dieser Wohlstand unsere heutige Wirklichkeit darstellt. Es ist für mich immer wieder unverständlich, warum Opa von dieser Zeit, die geprägt war von Arbeit, Armut und noch schwererer Arbeit, fast ausschließlich positiv berichtet. Wenn man ihm zuhört, muss man immer wieder darauf achten, nicht in den schwärmerischen Wunsch zu verfallen, diese Zeit erleben zu dürfen. Denn rosig war sie sicherlich nicht. Warum erzählt er dann aber so erfreut davon?
Arbeit gibt dem Menschen Orientierung und Halt, er kann etwas tun, um seine Gegenwart und unmittelbare Zukunft zu verbessern. Bezogen auf die Feldarbeit bedeutet dies, er kann sich ihr völlig hingeben und weiß, er wird – höhere Gewalt ausgenommen – einen gerechten Lohn erhalten. Und Armut kann einen jungen Menschen dazu anspornen, noch härter zu arbeiten und alles für