Tessiner Erzählungen. Aline Valangin

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Tessiner Erzählungen - Aline Valangin

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ein wenig und wies auf die Narbe. Stella hielt inne im Weben, saß da wie ein kleines Mädchen und begann zu weinen. Erschrocken ging die Sciora zu ihr hin und nahm sie um die Schultern. «Was ist denn», fragte sie, «geht es nicht mit Renzo?»

      Stella wischte sich die Augen und schüttelte den Kopf. «Es ist aus», sagte sie, «der Vater will nicht.» Die Sciora scheute sich, mehr zu fragen, und wartete bestürzt, ob Stella von sich aus etwas erklären würde. Das Mädchen versenkte sein Taschentuch in die Schürzentasche und sagte: «Nicht, dass ich den Renzo absolut haben wollte – wenn ich nur von hier fortkönnte.»

      «Das ist doch nicht unmöglich», meinte die Sciora, «es ist auch nicht unnatürlich, wenn ein Mädchen etwas anderes sehen will als Dorf und Berge.» Und sie fragte Stella, ob sie in die Stadt kommen möchte. Sie wüsste ihr eine Möglichkeit. In dem Ge­schäft, das Teppiche bestelle, suche man eine hübsche Weberin, die gewillt wäre, im Schaufenster zu weben, damit die Leute sehen, was Weben sei. Ob ihr das nicht gefallen würde? Stellas Au­gen leuchteten auf. Sie nahm die Hand der Sciora und drückte sie ungeschickt und leidenschaftlich. «Ich könnte Ihnen nicht genug danken, wenn Sie mir helfen würden, ein wenig in die Stadt zu kommen. Ich habe ja noch nichts kennengelernt.» Sie lachte und die Sciora war verblüfft zu sehen, wie schön das Mädchen war, wenn es lachte. Bis jetzt hatte sie Stella nur ernst gesehen, kaum ein Lächeln war über ihr Gesicht geflogen.

      «Und der Vater?», fragte die Sciora. Stellas Gesicht erlosch. «Er wird nichts dagegen haben können, er ist ja nur gegen die Heiraten. Ich bin erwachsen, ich kann mein Brot verdienen, wenn man mir zu einer Stelle verhilft. Was kann er dagegen haben?», sprach sie sich zu.

      «Gehen wir ihn gleich fragen», schlug die Sciora vor, um die Sache ins Rollen zu bringen, über deren Ausgang sie nicht so si­cher war.

      Der Posthalter saß im Postbureau und rechnete. Die Frauen entschuldigten sich, ihn zu stören, aber es sei wegen etwas Wichtigem. Und die Sciora brachte den Vorschlag vor. Während sie noch sprach, fiel ihr der böse Glanz seiner Augen auf, der im Widerspruch stand zu seinem freundlichen Lächeln, das ihn nicht verlassen hatte.

      Er strich sich den weißen, vollen Schnurrbart zurück, dass man seine Lippen sah, und räusperte sich, bevor er sagte: «Stella bleibt hier.»

      Voll Bedauern schaute die Sciora nach dem Mädchen, doch wie erschrak sie, als sie dessen Gesicht sah. Es war wie aufgerissen, der Mund verzogen, die Nasenflügel gebläht und die Augen – ja, das waren Tieraugen!

      Einst war die Sciora dazugekommen, wie Knaben mit Stöcken eine Katze zu Tode schlugen. Das Tier konnte nicht mehr gehen, aber in seinen Augen hatte sich alles Leben zusammengepresst, das noch in ihm war. Es hatte die Sciora angesehen: Lebenswut und Todesangst waren im Blick gelegen. Das stand auch in den schwarzen Augen der Stella. Und nun stürzten die Worte aus ihr. «Ich bleibe hier … ich bleibe hier … meint Ihr? Nein, ich gehe. Seit Jahren sitze ich hier und arbeite für Euch. Was tut Ihr den ganzen Tag? Nichts. Ich arbeite, bis mir die Hände weh tun. Was kümmert es Euch? Wenn Ihr nur das Geld bekommt.»

      «Schweig sofort», sagte der Alte. Er stand zitternd hinter seinem Stuhl, an dessen Lehne er sich hielt. Die Sciora hob angstvoll die Hände, wie um die beiden auseinanderzuhalten. Doch Stella fuhr fort:

      «Das Geld für meine Aussteuer, wollt Ihr sagen? Aber gönnt Ihr mir denn einen Mann? Etwa den Pietro, der mich schon vor sechs Jahren genommen hätte, als ich noch wenig verdient hatte, oder den Benno … den Eugenio …» Sie schrie einen Namen nach dem andern immer lauter und kreischender, bis sich die Stimme in ein Lachen überschlug: «Etwa den Renzo, den jede Frau haben möchte, vor dem jede zittert – und der mich gewählt hatte … Welchen gönnt Ihr mir?»

      «Schweig!», keuchte nochmals der alte Mann, dessen Unterkiefer auf und ab schlug. Die Sciora fand, dass er aussehe wie ein Nussknacker. Sie war so erregt, dass sie nicht mehr wusste, ob der Moment komisch sei oder tragisch. Sie versuchte etwas zu sagen, das die zwei hätte beruhigen sollen, aber diese hörten gar nicht zu.

      Unter Lachanfällen und trockenen Schluchzern schrie Stella weiter: «Wenn Ihr nur’s Geld habt, das Übrige ist Euch gleichgültig, wie ich mich quäle, nachts, allein im Bett, wie ich mich wälze und der Leib mir brennt …»

      «Schweig», brüllte der Alte und schlug schnell ein Kreuz. Mit der gleichen Hand holte er weit aus und hieb der Stella damit ins Gesicht. Diese wimmerte auf und stürzte langsam und weich zu Boden. Sie hatte das Bewusstsein verloren. Die Sciora rannte in die Küche, die danebenlag, und holte Wasser. Damit begoss sie das arme schöne Gesicht, das mitten in der Unordnung der langen Haare still und blass dalag.

      Stella kam bald zu sich. Sie hielt sich den Kopf und klagte: «Wie kam das nur?»

      Da erschien der Vater auf der Schwelle mit einem großen Schlüssel. «Marsch», herrschte er das Mädchen an. Stella stand gehorsam auf, ging dem Vater voraus, die Treppe hinauf. Die Sciora hörte, wie oben eine Türe aufgemacht und dann mit dem Schlüssel abgeschlossen wurde.

      Der Alte kehrte freundlichen Gesichtes zurück. Er bat die Sciora, sie möge entschuldigen, Stella habe oft solche Anfälle. In der letzten Zeit häufiger. Er schließe sie dann ein, bis es besser ge­he. Man wisse im Dorf nichts davon und er bitte, die Sciora möge auch schweigen. Diese Anfälle seien der Grund, warum er sie hierbehalten müsse und nicht heiraten lasse.

      Die Sciora war von dem Erlebten mitgenommen. Sie ging rasch fort. Unterwegs überdachte sie, was sie gesehen und gehört hatte, und mit Schrecken begriff sie, dass ein großes Unrecht an dem Mädchen seit Jahren geschehe. Das war wohl nicht nur Frömmigkeit, was den Alten verhinderte, seine Tochter zu verheiraten, das sah viel mehr aus wie Habsucht und Eigennutz. Das Märchen vom bösen Vater, da stand es lebendig vor ihr. Sie kam in Zorn gegen diesen alten scheinheiligen Fuchs, sie wollte ihn anzeigen, ihm die Polizei ins Haus schicken, etwas musste doch geschehen, man konnte das Mädchen diesem hartherzigen Menschen nicht überlassen.

      Aber wen gingen diese Dinge etwas an? Das Mädchen war volljährig. Es brauchte ja nur fortzugehen.

      Und hatte sie sich nicht heute schon in die Sache gemischt, die nicht die ihre war, und damit Unheil heraufbeschworen? Zudem – wusste man alle Hintergründe, alle? Gab es nicht noch etwas hinter dem, was sie heute miterlebt hatte?

      Bis sie zu Hause war, hatte sie sich beruhigt und sich vorgenommen, sich nicht um diese Angelegenheit zu kümmern. Sie ging von da an selten ins Haus des Posthalters und vermied es, mit ihm zusammenzutreffen. Mit Stella sprach sie nur mehr über ihre Weberei. Das Mädchen war wieder still und schweigsam wie früher. Es arbeitete fleißig und schien ruhig. Renzo sah man nicht mehr.

      Im nächsten Sommer fiel der Sciora eine große Veränderung an Stella auf. Sie staunte über ihre Schönheit. Unter der dunkeln Haut schimmerte das Blut, der Mund war weich und voll, die Schläfe gerundet. In ihrem Blick glänzte etwas Neues. Sie sah zum ersten Mal, dass Stellas Augen nicht schwarz waren, sondern dunkel achatfarbig getupft und dass ihr Nacken ebenso stolz war wie sanft. Sie sagte sich, es sei vielleicht wirklich das Richtige für das Mädchen, hier still im Hause des Vaters zu leben. Stella, danach gefragt, meinte, ja, sie sei zufrieden. Der Vater habe recht. Es sei für sie am besten hier. Im letzten Jahr sei sie nur müde gewesen von zu vielem Weben. Jetzt gehe sie oft in den Weinberg und das bekomme ihr gut. Bewegung.

      Wenn es nur das war, dachte die Sciora, so war ja das Theater damals wirklich überflüssig. Nie mehr wolle sie sich auf Mädchenlaunen einlassen und sich in dumme Dinge mischen, die sie nichts angehen. Was in der Stadt gelte, gelte eben hier nicht. Stella sehe schöner aus denn je und sage, sie sei zufrieden. Mehr kann man nicht wollen.

      Die Rebberge liegen draußen vor dem Dorf. Es sind die letzten des Tales. In Terrassen steigen sie den

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