Tessiner Erzählungen. Aline Valangin
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Vor kurzem hatte der Posthalter den Schmerz erleben müssen, seinen Pfarrer und Freund fortziehen zu sehen. Der alte Pfarrer wurde pensioniert und ein junger kam an seine Stelle. Der Posthalter übertrug bald seine verehrungsvolle Liebe auf den Jungen und eine späte Zärtlichkeit dazu, die seinem früh verstorbenen Sohne zugekommen wäre, den er zum Geistlichen bestimmt hatte. So kam es, dass auch der junge Pfarrer häufig im Hause des Posthalters war und sich dort wohl fühlte.
Es wurde im Tal manches über den jungen Pfarrer des untern Dorfes erzählt. Man fand ihn ungewöhnlich. Die Leute wollten wissen, er sei aus vornehmen Haus, seine Mutter habe ein Gelübde getan, ihr Sohn, der mit zwölf Jahren schwer erkrankt war, werde Priester, wenn Gott ihn errette, und er habe die Mutter nicht betrüben wollen und die Weihen genommen. Er sei fast ein Heiliger … Die Sciora hatte von dem jungen Menschen einen anderen Eindruck. Sie hatte einst, ohne zu wissen, dass er es sei, eine Begegnung mit ihm. Sie saß oben auf ihrer Gartenmauer und schaute hinunter. Ein Geistlicher kam des Wegs hinauf. Sie kannte ihn nicht und schaute ihn darum genauer an. Er war sehr groß und schlank, mit einem überaus feingeschnittenen Gesicht, das sich weiß gegen das schwarze Haar und die schwarze Kleidung abhob. Sie wunderte sich über die Erscheinung, die so wenig aufs Land passte. Als der Mann unter ihr war, schaute er herauf, gerade in ihr Gesicht. Er tat, erschreckt, einen kleinen Schrei. Dieser Schrei wiederum erschreckte die Sciora, denn das war nicht der Laut eines Menschen gewesen, sondern der eines Tieres, eines überraschten scheuen Tieres. Sie zog sich verwirrt von der Mauer zurück. Die Köchin Marta erzählte nach Tisch, der neue Herr Pfarrer vom unteren Dorf sei heute zum ersten Male zum hiesigen Herrn Pfarrer, seinem Kollegen, gekommen, ihm einen Besuch abzustatten. So wusste sie, wer der Priester war. Sie musste lange an ihn denken. Wie kann ein Mensch so schreien, und nur, weil er eine Frau erblickt?
Der Tag von Maria Himmelfahrt rückte heran. Dieses Jahr sollte das Fest im oberen Dorf besonders schön werden. Es wurden Gaben gesammelt, die nach der feierlichen Prozession, an welcher sich die heilige Jungfrau selbst, ganz aus Gold, um die Kirche herumtragen ließ, versteigert werden sollten. Der Erlös gehörte ihr. Man dachte daran, ihr einen neuen Baldachin anzuschaffen. Der alte würde nicht mehr manche Prozessionen überstehen.
Kleine und große Mädchen gingen von Haus zu Haus die Gaben sammeln. Ein jeder schenkte etwas, denn wem hat die Muttergottes nicht schon geholfen? Da waren Handarbeiten, Häkelspitzen, gestickte Deckchen, aber auch Lebensmittel, Eier, Hühner und Kaninchen. Es war noch zu bestimmen, wer in diesem Jahr die Jungfrau würde tragen dürfen. Nicht jeder war dazu berufen. Es musste ein ehrbarer und frommer Mensch sein, der fleißig zur Beichte ging. Es hatten sich vier italienische Holzfäller anerboten. Sie arbeiteten jenseits der Grenze im Wald, doch kamen sie jeden Sonntag ins obere Dorf zur Messe, da es der nächste Kirchort war. Man kannte sie als rechte Leute. Die Mädchen schauten ihnen am Sonntag nach. Besonders der eine, Renzo, gefiel. Er war nicht schön, aber dunkelbraun und stark wie ein Bär. Im linken Ohrläppchen trug er einen goldenen Ring. Wenn er die Frauen aufmerksam ansah, erröteten sie unter ihrem Kopftuch. Alle freuten sich, dass der Pfarrer einverstanden war, Renzo und seine Freunde die heilige Jungfrau tragen zu lassen.
Der Festtag brach an. Am frühen Morgen war die Kirche mit den schönsten frischen Blumen aus den Gärten geschmückt worden. Um zehn Uhr, nach der Messe, begann unter großem Glockengeläut der Rundgang um die Kirche. Voran trippelten die weißgekleideten kleinen Mädchen, von ihren eigenen Schleiern verwirrt und entzückt. Die größeren Mädchen beteten fromm und neigten den Kopf unter ihren Papierblumenkränzen. Hoch darüber schwankte, auf blumenbestreutem Podium und unter dem alten Baldachin mit Goldfransen, die Muttergottes heran, von den vier Holzfällern auf den Schultern getragen. Sie glänzte und gleiste … Die Männer schauten ernst und ergriffen drein. Besonders Renzo sah mit innig schwerem Blick immer wieder an der Jungfrau empor, halb verzaubert. Der nachfolgende Zug der Frauen und Männer wollte nicht enden. Er staute sich und die heilige Jungfrau musste bei der Kirchentür warten, bis sie wieder Eingang fand. Unter den Frauen war auch Stella mit ihrer Tante Fiorina zu sehen. Am Nachmittag begann der heitere Teil des Festes. Die Besucher hatten sich auf dem Kirchenplatz eingefunden, darunter der Posthalter mit Stella. Er ging unter den Leuten freundlich plaudernd herum und hielt dabei seine Tochter an der Hand wie ein Kind. Stella war städtisch gekleidet, was sie fremd und auffallend wirken ließ. Alle kehrten sich nach ihr um. Auch die vier Holzfäller starrten sie an. Renzo blieb stehen. Doch Stella schien nichts zu bemerken.
Da läutete der Küster Maurilio mit einer alten Hausschelle. Er stand hinter dem Tisch, auf welchem die Gaben ausgelegt waren, und begann die Versteigerung. Die vier Italiener waren am eifrigsten dabei. Zuerst schaute man ihnen verwundert zu, wie sie sich überboten, doch dann steckte ihr Beispiel an und bald war unter Lärm und Gelächter eine wilde Steigerung im Gang. Der Brauch wollte, dass die erlangten Gegenstände nicht behalten, sondern gleich weiterverschenkt werden müssen. Da die Männer das Geld hatten und steigern konnten, wurden die Mädchen und Frauen beschenkt. Sie standen beladen mit Dingen und glücklich neben ihren Männern.
Maurilio holte die Hühner auf den Tisch. Sie waren bis jetzt im Schatten darunter gestanden, jedes in einem kleinen breitsprossigen Korb. Eine junge weiße Henne wurde ausgeboten. Renzo wollte sie haben. Er steigerte verbissen und sie fiel ihm um sechs Franken zu. Er nahm den Korb vom Tisch weg und schaute hinein. Doch im Überschwang seines Gefühls reichte er ihn sofort wieder Maurilio, er spende die junge Henne nochmals der heiligen Jungfrau. Maurilio bot sie wieder aus und wieder begann ein heftiges Wettsteigern um sie. Renzo gab nicht nach, bis die Henne ihm ein zweites Mal zufiel. Er jubelte, berauscht von einem Glück, das er wohl schwerlich hätte genauer benennen können. Und doch, vermutlich war er seiner Regungen nicht so unbewusst, dass er himmlische und irdische Sterne verwechselt hätte. Jedenfalls sah die Sciora später, als die Versteigerung zu Ende war und sich alles verlief, dass der Korb mit der jungen Henne an Stellas Arm hing.
Von da an war Renzo oft im Dorf, obschon er einen weiten Weg von seinem Arbeitsplatz her hatte. An manchen Abenden sah ihn die Sciora auf einem geliehenen Fahrrad ohne Nummer den Weg hinuntersausen. Der Weg führte nirgends anders hin als ins untere Dorf. Man sprach davon, er lungere dort auf dem Dorfplatz herum in der Hoffnung, etwas von Stella zu erspähen. Er wolle sie zur Frau, habe er gesagt, und sie wäre schon einverstanden, er sehe es ihren Augen an, aber da sei der Alte. Er wage nicht ihn zu fragen. Die Leute meinten, er wäre fromm, einen Frömmeren als Renzo könne der Posthalter nicht finden, und auch sonst höre man nur Gutes von ihm. Er sei einer der Aufseher bei den großen Arbeiten im Wald drüben, und also nicht der erste Beste … Man fragte sich, ob Renzo sein Ziel erreichen werde. Fast begann man darüber zu wetten.
An einem Sonntag kam Renzo, das Fahrrad stoßend, den Weg hinauf. Er trug eine rote Geranienblüte hinter dem Ohr. Der Sciora, die ihn bemerkt hatte, schien, sie kenne die Blüte und wisse, wo sie gewachsen war. «Schau», dachte sie, «die Sache geht doch vorwärts.»
In den nächsten Tagen hatte sie Stella eine Bestellung zu übergeben und ging zu ihr hinunter. Sie fand das Mädchen am Webstuhl, blass und in sich gekehrt. Sie wollte es nicht stören und stand bei den Blumen, um dort zu warten, bis Stella einen guten Unterbruch fände. Sie sah nach den