Tessiner Erzählungen. Aline Valangin
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Der Herr Pfarrer?
Niemand wird es wagen, ihm von dem Unschicklichen etwas zu sagen.
So soll es mir im Himmel angeschrieben werden, denkt sie. Man kann ja nicht genau wissen, vielleicht hat der Herr Pfarrer trotzdem recht mit dem Fegefeuer, und dann könnte das durch ihn verdorbene Heu doch für mich sprechen.
Und befriedigt von dieser Rechnung schläft die Teresa ein.
Stella
Schon von weitem sah man den Kirchturm des unteren Dorfes. Daneben stand eine große Tanne. Der Kirchturm und die Tanne waren gleich hoch. Sie sahen aus, von der Ferne gesehen, wie zwei stolze, schlanke Menschen, die nebeneinander hergehen, ohne sich zu berühren, aber für alle Zeiten zueinandergehörig.
Die Tanne stand im Garten des Posthalters. Sie war sein Ruhm. Selten sah man eine so gerade gewachsene, ebenmäßige und hohe Tanne. Der Posthalter hatte Tisch und Bank unter dem Baum anbringen lassen. Dort saß er, wenn man vorbeiging, und las.
Er war früher im Land drunten Lehrer gewesen. Erst in seinem Alter war er mit seiner Tochter Stella ins Tal zurückgekehrt. Die Frau war ihm gestorben. Neben der Post betrieb er einen kleinen Spezereiladen. Seine Tochter half ihm. Sie besorgte den Haushalt und den Garten, sie bediente im Laden.
Stella war nicht mehr ganz jung. Groß und schlank gewachsen, mit ruhigen, weiten Bewegungen, war sie eine schöne Erscheinung. Auffallend an ihr war das übermäßig reiche, sehr schwarze Haar und die dunkeln Augen. Sie ging angezogen wie die andern Mädchen im Dorf, aber ihre Haltung hob sie aus allen hervor. Man hätte denken können, sie sei stolz. Das stimmte aber nicht. Eher war sie scheu. Sie mied Gesellschaft und liebte es, für sich zu sein. Nur ihre Tante Fiorina, die im oberen Dorf wohnte, besuchte sie öfters.
Sie war eine der wenigen Frauen im Tal, die weben konnte. Diese Kunst hatte sie bei ihrer Mutter gelernt, die Italienerin gewesen war, aus dem Süden, wo die Frauen das Weben noch verstehen. Ihr Webstuhl stand in einem hellen, niederen Raum mit Holzboden und großen Schränken an den Wänden, in denen sie die Wolle aufbewahrte, die sie für ihre Arbeit benötigte. Die Fenster waren verstellt mit über und über blühenden Geranien. Sie pflegte sie mit Freude und Stolz und behielt sie auch im Winter in der Stube. Jede freie Minute saß Stella an ihrem Webstuhl. Sie verstand es, Stoffe in verschiedenen Mustern zu weben, doch konnte sie auch Teppiche knüpfen, und das brachte ihr einen guten Verdienst ein. Sie webte auf Bestellung. Was sie verdiente, lieferte sie dem Vater aus. Er verlangte es so. Ja, sie bekam das Geld gar nicht in die Hand, er zog es ein. Kleidete und ernährte er sie nicht, hatte sie nicht alles, was sie brauchte? Das Geld legte er auf die Seite. Er führte darüber ein Buch. Mit schmaler, spitziger Schrift trug er Zahl für Zahl hinein. Dieses Geld, es war schon eine hübsche Summe, würde er am Tage der Hochzeit der Tochter aushändigen. Vorher nicht. Und bis dahin hatte es Zeit.
Wohl war Stella nicht mehr ganz jung. Sie war sicher schon fünfundzwanzig Jahre alt. Ihr dunkel überschattetes Gesicht bekam um die Nase einen harten Zug, der Mund wurde schmal und der Nacken steif. Aus dem unergründlichen Dunkel ihrer Augen brach manchmal ein seltsamer Glanz, der sich nur langsam in sich zurückzog, und die Brauen schienen zusammenzuwachsen.
Die Sciora, welche oft bei Stella Stoffe oder Teppiche anfertigen ließ oder für Geschäfte bestellte, fand das Mädchen ungewöhnlich wortkarg. Es kostete sie Mühe, mehr als das Notwendigste von ihr zu erfahren. Stella führte ihre Rede biblisch, mit Ja und Nein. Kam ihr Vater etwa herein, verstummte sie vor ihm ganz. Sie neigte den schweren Kopf nach vorn und stimmte im Voraus allem zu, was er anordnen mochte.
Dieses Verhalten fiel bei einem Mädchen ihres Alters und ihrer Eigenschaften auf. Die Sciora machte sich jedenfalls ihre Gedanken darüber. Etwas musste da nicht stimmen. Der helläugige, heitere Mann passte nicht zu der dunkeln, stummen Tochter. Man müsste sie zum Reden bringen, dachte die Sciora, es ist schade um das Mädchen. Sie versuchte es bei einem nächsten Besuch mit einigen scherzenden Fragen. Stella schaute sie groß und verwundert an und wendete den Kopf ab. So ging es also nicht.
Da frug sie bei Gelegenheit den Vater, ob der Tochter etwas fehle, sie sei so still. Er sah über seine Brille, die er zum Nachprüfen einer Teppichrechnung aufgesetzt hatte, die Sciora an, abwehrend und misstrauisch.
Etwas Stechendes stand in seinem Blick. Doch gleich wurde er wieder wasserklar und freundlich. Nein, die Stella sei gesund, es fehle ihr nichts. Sie arbeite vielleicht etwas zu eifrig, sie habe eben Freude am Weben. Das mache sie nervös. Aber sonst fehle ihr nichts.
Über Stellas Geranien waren die Frauen doch ins Gespräch gekommen. Diese Geranien waren eine Sehenswürdigkeit. Oft blieben Fremde draußen vor den Fenstern stehen und staunten. Da waren alle Sorten von Geranien wie in einer großen Auslage beieinander. Altmodische und neue, einfache und gefüllte, weiße mit einer roten Flamme im Herzen, seidenblätterig und fast durchsichtig, zartrosenrote, anzufühlen wie warme Haut, dazugehörig das große wollige, grüne Blatt, zuckend rote, Trost und Versprechen den Liebenden, büschelige weinrote und fransige violette, die an der Sonne verblassen. Die Stube duftete von Blüten und Blättern. Die Sciora hätte gerne gewusst, was Stella den Pflanzen zuliebe tat, dass sie so reich blühten. Stella wusste nicht, was es sein könnte, sie pflege sie wie andere Leute. Sie lächelte aber und brach einige Schösslinge ab, die sie der Sciora reichte: «Vielleicht ist der Stock so kräftig.»
Diese Schösslinge waren der Beginn ihrer Freundschaft. Ob sie angewachsen seien und Wurzeln treiben, ob sie blühen würden und wann, das wollte Stella wissen. Die Sciora vergaß nie darüber zu berichten. Auch bewunderte sie jedes Mal neu die schönen Pflanzen in Stellas Fenstern und bemerkte ihre Fortschritte in Wachstum und Blüte.
Die gemeinsame Freude an den Geranien machte das Mädchen zutraulicher. Es kam nun vor, dass Stella auch über andere Dinge sprach, und die Sciora wunderte sich, wie klug sie war und wie viel sie gedacht hatte. Sie sagte es ihr einmal und fragte, ob sie viel lese.
«Das Weben gibt einem Gedanken», meinte sie. «Mir kommt manches in den Sinn, wenn ich webe und sehe, wie aus dem festen Zettel und dem freien Einschlag etwas entsteht. Der Zettel ist nichts für sich allein und der Einschlag auch nicht. Aber zusammen verkreuzt wird daraus ein guter Stoff. Darüber muss ich dann nachsinnen und da kommen die Gedanken von selbst.»
Seit die Sciora sich für das Mädchen interessierte, schien ihr, man spreche nur von ihm. Früher war es ihr nicht aufgefallen. Vielleicht dass wirklich erst seit kurzem das Geschwätz auf Stella kam. Man hörte ihren Namen mit demjenigen von diesem oder jenem Burschen zusammen genannt. Es hieß, sie möchte gerne heiraten und mancher junge Mann denke an sie. Es hieß auch, es sei Streit im Hause des Posthalters. Das freundlich sorgende Wesen des Vaters und die Ergebenheit der Tochter seien nur ein Schild, hinter dem die Wahrheit sich verberge. Und diese Wahrheit sei nicht schön.
«Warum soll denn Stella nicht heiraten?», fragte die Sciora einst die Tante des Mädchens, Fiorina, die ihre Nachbarin war. «Sie ist jung und gesund, auf was will denn ihr Vater warten?» Fiorina zog ihre fetten Achseln in die Höhe und legte die Hände ergeben ineinander, wie sie es auf den Heiligenbildern in der Kirche gesehen haben mochte: «Er ist zu fromm, mein Bruder», seufzte sie, «einen Frömmern gibt es nicht mehr –, und einem weniger Frommen kann er das Mädchen nicht geben. Was würden unsere Alten dazu sagen, wenn sie noch da wären?»
Dagegen war nichts einzuwenden.
Tatsächlich galt der Alte für einen der treuesten Diener der Kirche, den man weit im Land herum kenne. Gegen Andersdenkende war er hart und verfolgte sie, wenn es in seiner Macht lag. Mancher murrte deswegen. Für den Pfarrer aber und die Kirche wäre er durchs Feuer gegangen. Er verkehrte nur