Zorn und Freundschaft. Max Frisch 1911-1991. Urs Bircher
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Von der geistigen zur militärischen Landesverteidigung
Am 1. September 1939 überfiel Deutschland Polen. Zwei Tage später traten England und Frankreich in den Krieg. Der Schweizer Bundesrat ordnete die Generalmobilmachung an. Die Vereinigte Bundesversammlung hatte bereits am 30. August den Gutsherrn und Berufsmilitär Henri Guisan zum General, dem Oberbefehlshaber der Schweizer Armee zu Kriegszeiten, gewählt.156 Max Frisch, der gerade mit seinem ersten Bauauftrag, einem Taubenhaus und einem Kinderplanschbecken, beschäftigt war, rückte als Kanonier ins Tessin ein. Hier wurde er beim Bunkerbau eingesetzt. Vom Frieden zum Krieg, vom Taubenhaus zum Bunker – der Übergang hätte symbolischer nicht sein können.
In der Armee begann Frisch wieder intensiv zu schreiben. Er verfaßte ein Tagebuch, die Blätter aus dem Brotsack: »Nach den ersten [schriftstellerischen, U.B.] Anfängen, die sehr ungenügend waren … gab ich mir das Versprechen, nie wieder zu schreiben, und dann brach der Krieg aus, und unter dieser Bedrohung, die ich damals sehr ernst nahm (ich hatte nicht gedacht, daß wir ausgelassen würden), hab ich sozusagen für die letzte Zeit, die noch blieb, nochmals für mich diese Notizen gemacht und ohne jede theoretische Überlegung, ohne jede Reflexion in dieser unpraktischen Situation des Soldatseins natürlich das Tagebuch gewählt, denn das war möglich, daß ich in einer halben Stunde Feierabend, oder zwischendurch Notizen machen konnte; und ich habe eigentlich dort ohne viel Bewußtsein eine Form für mich entdeckt, die offenbar eine der möglichen Formen für mich ist.«157
Die Todesahnung war nicht unberechtigt. Die Spitzen von Politik und Armee rechneten 1939/40 ernsthaft mit dem Einmarsch der Reichswehr, und sie wußten auch, daß die Schweizer Truppen diesen Angriff nicht hätten aufhalten können. In Jonas und sein Veteran erinnerte Frisch an die Dramatik des 14. Mai 1940, an den Tag, an dem der Einmarsch erwartet wurde.158 Man saß hilflos und wehrlos herum und wußte, in wenigen Stunden konnte alles vorüber sein; man dachte an Selbstmord, an die unerfüllt gebliebenen Sehnsüchte, an den Tod. Der Kommandant der Einheit kommandierte »Bereitschaft zum Letzten, zum Sterben«.159 Wohl eher ins Reich der Legende gehört die Geschichte von der zufälligen Formfindung des Tagebuchs. Immerhin hatte sich Frisch bereits 1935 in Berlin für Hans Carossas Kriegstagebuch begeistert160 und im selben Jahr, in der NZZ vom 16. September 1935, ein eigenes Taschenbuch eines Soldaten in Form eines Tagebuchs publiziert. Vorbild und Erfahrung waren also vorhanden. Eine wirklich eigene Tagebuch-Form entwickelte Frisch erst im Tagebuch 1946–1949.
Blätter aus dem Brotsack. Tagebuch eines Kanoniers
Vom 1. September 1939 bis zum 17. Mai 1945 leistete Frisch in mehreren Etappen rund 650 Diensttage, das heißt er verbrachte ein knappes Drittel jener Jahre im Aktivdienst. Die Blätter aus dem Brotsack schrieb er hauptsächlich vom 1. September bis zum 18. Oktober 1939, sie erschienen im selben Jahr.161 Der Anlaß zum Text war, so Frisch, der Auftrag seines Hauptmanns, ein »Tagebuch unseres Grenzschutzes« zu verfassen.162
Die Blätter, »ein buntes Mosaik« (Korrodi), halten ohne streng strukturierten Zusammenhang unterschiedliche Ereignisse und Themen aus der Aktivdienstzeit fest: Nicht singend und aufschneidend zieht die Armee in den Dienst, sondern ernst und männlich. Nur – wie könnte es anders sein – eine junge Frau »verliert die Nerven und schwatzt.«163 In der Herzenstiefe des Kanoniers rumort Heldenpathos: »Was war uns der Friede, solange wir ihn hatten? Ohne die Finsternisse der Nacht, wie knieten wir vor der Sonne? Ohne das Grauen vor dem Tode, was begriffen wir jemals vom Dasein? Alles Leben wächst aus der Gefährdung.« Der Tod erscheint als die Chance zur ersehnten »Wandlung des Lebens«.164 Der »Gewinn des Lebens aus der Gefährdung« war bereits das Leitmotiv in Antwort aus der Stille gewesen. In den Blättern übernimmt der Krieg die Funktion des Nordgrats. Auch er erscheint als schicksalhafte Naturgewalt, die zur »unumgänglichen letzten Prüfung« zwingt, nicht aber als ein politischer Willensakt, den man verändern könnte. Nach dem Künstler Reinhart und dem Bürger Leuthold erscheint nun der Soldat als ein neuer literarischer und lebenspraktischer Entwurf Frischs.
Soldatenleben wird beschrieben. Oft genau beobachtet, amüsant, zuweilen befremdlich. Da ist ein Korporal »untertänig wie ein Neger«,165 die »Freude an der Waffe überkommt auch den lauten Kriegsverächter«,166 der »Segen [!] einer großen bewußten Gefährdung« macht die »menschlichen Entscheidungen … klarer, gültiger, großzügiger, mutiger«.167 Und dergleichen mehr. Die tägliche Öde des Dienstes bietet Anlaß zu grundsätzlichen Betrachtungen. Der Herbst der Mobilmachung wird zur existentiellen Metapher: »So müßte man sein ganzes Dasein erleben können … als ein großes, ein einziges, ein dauerndes Abschiednehmen«, um »ganz und gar die Gegenwart zu empfinden«.168 Ein Schläfchen auf der »mittäglichen Wiese wird zum Versinken in tieferes Wachsein« und ruft »dumpfes Entsetzen« vor der »Weltnacht« hervor.169 Zuweilen auch falten sich die Hände wie von selbst, und es steigt ein Gefühl auf, »daß man geschlossen sei, ein Ring, ein Kreislauf … man spürt seine eigene Gegenwart, seine Seele, die in den Leib gekommen ist … wie man aufnimmt und sich wandelt … – ohne daß man im Grunde sich jemals verlieren kann«.170
1940, Soldatenweihnacht. Max Frisch vorne rechts. Foto Max-Frisch-Archiv.
Todesschrecken und existentielle Erlebnisse wurden bleibende Erinnerungen. Konfrontiert mit einem Krieg, der alles zerstörte, entdeckte der Soldat überall, wie dünn und zerbrechlich die Schicht des Lebens und wie allgegenwärtig und unendlich das Reich des Todes ist. Diese Grenzerfahrung zwang Frisch zu einer besser reflektierten Sicht der Dinge. Was ist, ist nicht fest und verläßlich, es ist nur ein kurzes Aufleuchten des Lebendigen im ewigen Vernichtungsprozeß. Die Lektüre der Ilias von Homer inspirierte ihn zu existentialistischen Kriegsphilosophien: »Das Nichts, der große Urgrund der Langeweile«,171 ist auch »der Urgrund alles Schöpferischen … So wie es der Urgrund der Kriege ist, der Laster, der großen Wagnisse«.172 Aber im Unterschied zu den unsterblichen Göttern, welche die Sinnlosigkeit alles Bestehenden lächelnd ertragen, weil für sie alles, auch Schmerz und Tod, ohnehin nur ein Spiel ist, braucht der Mensch einen Sinn, zumindest einen Vorwand für sein Handeln. So ergreift er denn dankbar »alles, was ihm einen Lebenszweck vor die Füße wirft«, und sei es der »niedliche Vorwand« einer entführten Helena, um sich in den Kampf zu stürzen. Nur der wirklich »schöpferische Mensch« steht über dem Krieg.173
Es mag verwundern, daß ein gebildeter Kopf angesichts der Greuel des Krieges Hunderte von Seiten mit Maximen und Reflexionen füllt, ohne über den Krieg und seine Gründe politisch nachzudenken. Dieses beredte Verschweigen ist nicht einfach die apolitische Haltung im Sinne des traditionellen Literaturverständnisses. Es zeugt auch nicht bloß von Naivität.174 Hier versucht ein junger Mann – wohl in Anlehnung an Carossas Kriegstagebuch –, angesichts des drohenden Todes bedeutsame Literatur, sozusagen einen Nachlaß an Tiefsinn zu verfassen und eine Bilanz seiner bisherigen Erfahrungen und Erkenntnisse zu ziehen. Und diese sind, zumindest in dieser ersten Folge der Blätter aus dem Brotsack, durch und durch konventionell und konservativ.175
Die sozialdemokratische