Zorn und Freundschaft. Max Frisch 1911-1991. Urs Bircher
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Schweizer Monatshefte: »Wenige Bücher reichen so in den Grund menschlichen Daseins hinab, wie dieses.«177
Frisch selber hat fünfzig Jahre später seine damalige unkritische Haltung selbstironisch kommentiert: »650 Tage ohne Arrest. Ich muss sehr gehorsam gewesen sein« – »Gehorsam aus Stumpfsinn, aber auch Gehorsam aus Glauben an eine Eidgenossenschaft … Ich wollte nicht wissen, sondern glauben«.178
Für die Blätter erhielt Frisch nicht nur die zweimal fünfhundert Franken aus dem »Eidgenössischen Fonds zur Unterstützung arbeitsloser Künstler«, bei dem Frisch 1938 um Förderung nachgesucht hatte. Auch die Schweizer Schillerstiftung, vertreten durch Robert Faesi, und die Literaturkommission der Stadt Zürich honorierten Frischs Tagebuch aus dem Aktivdienst 1940 mit je fünfhundert Franken. Das waren für damalige Zeiten beachtliche Preisgelder.179
Ebenfalls Jahrzehnte später beschrieb Frisch den Nutzen, den er als einfacher Soldat aus seinen Diensttagen gezogen habe: »Leute meiner Schulbildung (Gymnasium, Universität, Eidgenössische Technische Hochschule) werden sonst kaum genötigt, unsere Gesellschaft einmal nicht von oben nach unten zu sehen.«180 Der Blick von unten ist ein kritischer Blick. Die genaue Lektüre der Blätter zeigt denn auch erste Ansätze zu einem Perspektivwechsel in Frischs Weltanschauung. So machte er etwa die Erfahrung, daß Vertreter proletarischer Kreise uneigennütziger zu ihrem Land und den Widrigkeiten des Dienstes stehen als Vertreter des Bürgertums,181 und er lernte den exorbitanten Reichtum wie die Not mancher Schweizer kennen.182 Erstmals stellte er die Frage, die ihn nun nicht mehr losließ: »Wo gehöre ich hin?«183
Ende 1940 erschien eine zweite Folge der Blätter in sechs NZZ-Beiträgen.184 Sie enthielt kritische Gedanken zum Krieg, zur sozialen Ungleichheit, zum Mißbrauch der kommunistischen Ideologie als Schreckenspopanz. Und sie kritisierte erstmals offen das bornierte, enge und am Bestehenden ängstlich festklammernde Bewußtsein vieler Schweizer, die den »Ruhestand des Geistes … gelegentlich schon mit Gesinnung« verwechselten.185 Das waren auffällig dissonante Klänge in der bisherigen Heimatharmonik, die anzeigten, daß Frisch im ersten Jahr des Aktivdienstes sein Schweizbild einer Revision zu unterziehen begann.
»Europa kippt, ich glaube nicht, daß man es noch aufhalten wird«
Wenn auch Frisch jede Politik aus der Literatur fernhielt, so beschäftigten ihn doch die höchst dramatischen Zeitereignisse. Im Frühjahr 1940 überrannte die deutsche Wehrmacht Dänemark, Holland, Norwegen, im Juni kapitulierte Frankreich. Die Schweiz war nun ganz von faschistisch beherrschten Ländern umgeben, und Frisch rechnete, wie so viele andere auch, mit dem Sieg des Faschismus in ganz Europa. Am 17. Juni schrieb er unter dem Eindruck der französischen Kapitulation an Käte: »Europa kippt, ich glaube nicht, daß man es noch aufhalten wird. Das Denken an Frankreich, so unbekannt es mir ja ist, erfüllt mich mit Schmerz. England – England ist märchenhaft. Jetzt, wo man weiß, wie sie diesen Krieg in Sachen Mannschaft u. Ausrüstung begonnen haben, ist das deutsche Vorrücken kein Wunder; es ist, um sportlich zu reden, verdient. Warum hat man den Deutschen nicht geglaubt? Weil es unbequem war; weil es Geld gekostet hätte. England – England, das Reich des Geldes! Jetzt ist es zu spät, und es ist um ein solches Land nicht schade – im Gegensatz zu Frankreich – Wie aber wird das deutsche Europa aussehen? Ich verbrauche ganze Morgen, ganze Abende, um zu denken und nichts zu sehen. Wir, noch immer unheimlich verschont – von Italiens Gnade und Bedürfnis lebend – hängen nun überhaupt in der Luft. Wir werden, das ist das Bitterste, überhaupt nicht mehr zum Kampf kommen; unser Schicksal, so oder so, vollzieht sich über uns hinweg –«.186
Der deutsche Sieg ist »verdient«, um England ist es »nicht schade«, und »unser Schicksal vollzieht sich über uns hinweg«. Frisch war weder deutschfreundlich noch defätistisch; er sprach in diesem Brief bloß aus, was viele dachten: Der Einmarsch der Deutschen kommt bestimmt, und damit wird die Frage nach »Anpassung oder Widerstand« zur Existenzfrage. Die Landesregierung zwang die Presse zu höchster Zurückhaltung, um jeden Konflikt – und damit jeden Vorwand zum Einmarsch – zu vermeiden.187 Grenzübertritte und der Aufenthalt von Flüchtlingen in der Schweiz – ein Dauerstreit mit dem deutschen Reich – wurden weiter erschwert. Staatssekretär von Weizsäcker, Vater des nachmaligen deutschen Bundespräsidenten, forderte unverblümt, die Schweiz möge sich verhalten wie das Edelweiß am Felsen, »das in die Welt hinausstrahlt, ohne andere zu behelligen«.188
Anpasserisch bis zur Subordination reagierte auch die politische Führung. Drei Tage nach Frankreichs Kapitulation hielt Bundespräsident Marcel Pilet-Golaz seine berüchtigte Radioansprache, in der er sich zur faschistischen Neuordnung Europas bekannte. Für die bisherige Politik der Neutralität gegenüber allen kriegführenden Staaten gebe es jetzt keinen Grund mehr. »Der Zeitpunkt der inneren Wiedergeburt ist gekommen.«189 Im September empfing er eine Delegation wichtiger Schweizer Faschisten, im November erfolgte die berüchtigte »Eingabe der Zweihundert«: Zweihundert führende Schweizer aus Wirtschaft, Bildung und Politik verlangten offen eine Angleichung an die Achsenmächte. Die Armeeführung war bis in die Spitze gespalten. Deutschfreundliche Generalstabsoffiziere versuchten den antideutsch eingestellten General Guisan zu entmachten und die Schweizer Armee zu demobilisieren. Guisan konterte mit einer neuen Verteidigungsstrategie, dem Réduit190 , und dem legendären Rütlirapport. Gleichzeitig verstärkte man die wirtschaftliche Zusammenarbeit mit den Achsenmächten. De facto war die Schweiz ab Ende 1940 ein Teil des deutschen Wirtschaftsraums. Sie wurde der wichtigste Umschlagplatz des Reichs für Devisen und Gold – auch von Raubgold.191 »Sechs Tage in der Woche arbeiten die Schweizer für Hitler, und am Sonntag beten sie für seinen Untergang«, hieß der Witz der Zeit.
Der Anpassungsdruck erzeugte allerdings auch Gegendruck. Humanitäre Organisationen und Gewerkschaften mobilisierten zum Widerstand und gründeten antifaschistische Bewegungen. Zahlreiche Flüchtlingsorganisationen traten in Erscheinung. »Der große Teil der Bevölkerung, auch der Politiker, war in jener Zeit eindeutig antifaschistisch eingestellt. Zweifelhaft war die Haltung verschiedener Herren in den Chefetagen der Industrie, der Banken, der Politik und auch der Armeeführung«, so Hans Mayer, der in jener Zeit als Flüchtling in der Schweiz lebte.192
»Ich habe versucht, an die Bürgerlichkeit zu glauben und eifrig zu sein als Bürger«
Im Sommer 1940 erwarb Frisch während eines Diensturlaubs sein Diplom als Architekt. Das erste Ziel, der bürgerliche Beruf, war erreicht. In einem Architekturbüro in Baden, später bei seinem Lehrer William Dunkel, fand er erste Anstellungen. Mit dreißig Jahren verließ er 1941 erstmals den mütterlichen Herd und bezog eine eigene Wohnung. »Ich bin dreißig und habe endlich einen Brotberuf, ein Diplom, ich bin dankbar, daß ich eine Stelle habe: acht bis zwölf und eins bis fünf. Ich kann heiraten … Ich bin nicht mehr Student und nicht mehr Schriftsteller, ich gehöre zur Mehrheit.«193
Die Frau, die Frisch 1942 heiratete, war »eine junge Architektin, die mir am Reißbrett half und das Mittagessen richtete«,194 so Frischs recht nüchterne Beschreibung seiner Frau sechs Jahre nach der Hochzeit. Sie hieß Gertrude Anna Constance von Meyenburg, genannt Trudy, und war eine erstklassige Partie für den sozialen Aufsteiger. Die von Meyenburgs, ein reiches und adliges Schaffhauser Geschlecht mit weitverzweigten verwandtschaftlichen Verbindungen zum Berner und Zürcher Patriziat, seit 1706 Reichsritter des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation, besaßen außer Fabrikbeteiligungen, Immobilien und Bauland unter anderem das Gut »Schipfe« in Herrliberg mit eigenem Clevner Weinbau. Goethe hatte im September 1797 dort ebenso zu Gast geweilt wie Winston Churchill nach seiner berühmten Zürcher Universitätsrede im Jahr 1946. Während des Krieges dirigierten, musizierten und sangen internationale Berühmtheiten im großen Festsaal.195 Man hatte Geld und Kultur. Constances Großvater, Victor von Meyenburg, war als Bildhauer selber künstlerisch tätig gewesen. Sein Minnesänger Hadlaub ziert noch heute den Zürcher Platzspitz. Das jüngste seiner elf Kinder, Hanns von Meyenburg, der Vater der Braut, hatte als Pathologe Karriere gemacht, wurde Professor