Zorn und Freundschaft. Max Frisch 1911-1991. Urs Bircher
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Eine Prologepisode stellt Bin als jedermanns Alter ego vor. »Bin ist unser aller Wegbereiter insofern, als er unsere unerfüllten Möglichkeiten verkörpert. Er ist die Möglichkeit, die unsere Wirklichkeit begleitet.«246 Die Jahreszeitensymbolik strukturiert die Erzählung. Sie beginnt im Frühling, der Zeit des Lebensaufbruchs. »Mindestens die Hälfte des Lebens ist nun vorüber, und insgeheim fangen wir an, uns vor dem Jüngling zu schämen, dessen Erwartungen sich nicht erfüllten.« So denkt der Architekt Mitte Dreißig, der mit der Planrolle in der Hand am Feierabend im Caféhaus sitzt und »Heimweh nach ersten langen Gesprächen mit einer fremden Frau« hat.247 Doch statt nach Hause zur Frau namens Rapunzel zu gehen (das ist die Märchenschöne mit dem langen Haar, ein Salat, aber auch ein giftiges Kraut und der Spitzname für Trudy von Meyenburg), treiben ihn Frühlingsgefühle durch Gärten und Wald, »als ich unversehens vor der chinesischen Mauer stand«. Auf die Mauer gestützt raucht Bin eine Pfeife und lächelt. Gemeinsam zieht man weiter. »Ich hatte die Rolle unter dem Arm, Zeichen des Alltags«248 und ebenso Metapher für die gesellschaftliche Rolle, die jeder mit sich trägt. Man plaudert und wandert, bis man vom Hügel herab plötzlich Peking erblickt. »Weit konnte es bis Peking nicht sein, eine Stunde vielleicht oder zwei oder drei …«249 In Peking will der Architekt sich endlich von seiner Rolle im wörtlichen wie im metaphorischen Sinn befreien.
Frischs Peking liegt am Meer – wie Shakespeares Böhmen im Wintermärchen. Es ist kein realer Ort, sondern ein Ort der Sehnsucht, der Lüste, des Traums. Im Frühjahr, beim Aufbruch war Peking noch nahe gewesen. Im Sommer, in der Zeit der Reife, trifft man einen östlichen Heiligen, der die westliche Fragerei nach dem »Was tun sie?« nicht versteht. Ihm ist das bloße Dasein Glück genug. Man lagert im Gras, erinnert glückliche Jugendzeiten und bemerkt auf einmal, wie man im Strom der Zeit von Peking abtreibt. Man macht Lebenserfahrungen, gewinnt vernünftige Einsichten, wird erwachsen: »Der Jubel ist aus den Dingen verflogen, nur die Erfahrung bleibt, nur die Asche der Erfahrung nimmt zu.«250 Man trägt sich mit Selbstmordgedanken und vergißt Bin zuweilen jahrelang. Man altert. Bis Bin eines Morgens wieder da ist und es »ganz ernst meint mit unserer Reise nach Peking«.251 Aber nun ist es schon Herbst, »das Leben ist kurz«,252 und »wir haben nun endlich eine Wohnung gefunden … Sogar Garten haben wir nun, nicht viel, Blumen, Ausblick in die Bäume der Nachbarn, in Birnen und Kirschen, die uns nicht gehören.«253 Es ist die Wohnung an der Zollikerstraße 265, in welche die Familie Frisch 1942 gezogen ist. Und »nun haben wir auch bald ein Kind«254 – Ende 1943 und 1944 kamen Frischs Kinder Ursula und Hans Peter zur Welt. Die Erzählung ist in des Erzählers Gegenwart angekommen. Und genau hier setzte Frisch den ironisch-schmerzlichen Schlüsselsatz: »Wir sind in einer Weise
glücklich, die uns kaum noch ein Recht läßt auf Sehnsucht; das ist das einzig Schwere …«255 Frisch hat erreicht, was traditionellerweise zum bürgerlichen Glück gehört: Frau, Kind, Wohnung mit Garten, Beruf und Freunde. Aber diese haben alle »einen Knacks«,256 sie kennen nämlich Bin nicht. Sie sind getrieben von Geltungsbedürfnis und Ehrgeiz, was »ja auch nur ein Geiz« ist. Daß diese Sätze genau in der Mitte des Textes stehen, ist kein Zufall. Die »Mitte des Lebens« ist erreicht, die zweite Texthälfte gibt eine Voraussicht auf die Zukunft, auf den »Herbst« und den »Winter« des Lebens.
Wie sah Frisch 1942 seine Zukunft? Wieder einmal ist die Sehnsucht mächtig, die »ersten Häuser von Peking« sind erreicht. Der Architekt will endlich seine Rolle unterstellen und betritt einen Palast. Dieser ist – Angsttraum des Architekten – ein Zerrbild jenes Gebäudes, welches auf der Rolle entworfen ist. Der Hausherr lädt zu Gast, man vergißt wieder einmal Bin, denn die Tochter des Hauses ist süß und siebzehn. Auch sie plagt die Sehnsucht nach ihrem ›Peking‹. Mit dem Herrn des Hauses philosophiert man über die Diktatur der Zeit. Die Menschen des Abendlands sind ihre Sklaven, sie führen das Leben von »Ameisen«. »Unsere Seele gleicht einem Schneeschaufler, sie schiebt einen immer wachsenden … Haufen ungestillten Lebens vor sich her«.257 Gesellschaftliche Erfolge stellen sich ein, der Fürst gibt einen neuen Palast in Auftrag, ein Bubentraum erfüllt sich.258 Doch da legt der Fürst die Maske ab und zeigt sich als zotenreißender Fettsack. Die gute Gesellschaft, um derentwillen man Peking vergessen hatte, ist ein ordinäres Volk.
Man flüchtet mit der jungen Chinesin (auch sie trägt den Sehnsuchtsnamen Maja) ans »andere Ufer«. Maja jubelt ihrem Peking entgegen, denn Peking ist immer am anderen Ufer. Man landet – und das andere Ufer entpuppt sich als feines Lokal am Zürichsee. Was für Maja neu und aufregend ist, kommt dem Erzähler, der sich nun als Architekt Kilian vorstellt, öde, weil bekannt, vor: »Die Erde ist so groß nicht, wie man meint, auch sie macht es mit Wiederholungen.« Die Sehnsüchte sind aufgebraucht, und Maja verläßt den alternden Architekten mit einem jungen Mann.259 Der Winter ist gekommen, der Tod klopft bei Kilian an: Komm mit, oder finde einen andern, der für dich geht. Kilian sucht vergeblich, schließlich stirbt sein Vater. Im selben Augenblick kommt Kilians Kind zur Welt. Die Generationenfolge ist der einzige Weg, dem Tod zu entkommen! Die Erzählung ist zu Ende und der Lebensbogen gespannt – von der Jugend, dem Frühlingsaufbruch, über den Sommer der Genüsse, den Herbst des beruflichen und gesellschaftlichen Erfolgs bis zum Winter des Sterbens und der Einordnung in die ewige Generationenfolge. Eine Schlußepisode führt zum Anfang zurück. Kilian kehrt, trotz Peking und Maja, zu Rapunzel, der Ehefrau, zurück. Er hat die Rolle nicht in Peking stehen lassen, hat keine »Grenze, die in uns liegt, übersprungen«.260 Er nimmt sein Kind auf das Knie: »Wem es
gleicht? – Am ehesten, so will mich immer wieder dünken, gleicht es Bin, der uns nach Peking führt – Peking, das sich nie erreichen läßt.«261
Biographisch gelesen erweist sich Bin oder Die Reise nach Peking als ein weiterer Versuch Frischs, die Forderungen einer bürgerlichen Existenz mit dem Künstlertraum nach dem erfüllten Leben zu vereinigen. Die Sehnsucht ist nicht zu unterdrücken; immer wieder, gesteht der Ehemann seiner Rapunzel, wird er nach Peking aufbrechen, immer wieder wird ihn eine Maja verlocken, doch stets wird er zum ehelichen Herd zurückkehren. Bürgerliche Verhältnisse vorausgesetzt, bleiben Aufbrüche in ein anderes Leben Seitensprünge, Libertinage und Träumerei. Frisch widmete Bin oder Die Reise nach Peking seiner Frau. Das ist nicht zufällig. Unter biographischem Aspekt ist Bin eine Lebensbeichte, der Versuch, sich und seine Lebensnöte der Ehefrau gleichnishaft zu erzählen.262
Im Unterschied zu den vorangegangenen Versuchen sah Frisch in Bin nicht mehr das Schicksal oder die Natur oder den einsamen Kampf mit sich selbst als Ort der Auseinandersetzung und Bewährung. Zum ersten Mal tritt die Abhängigkeit des Ichs von der Gesellschaft ins Zentrum. Das war ein folgenreicher Perspektivenwechsel. Bin ist allerdings, so Hans Mayer, nicht die Utopie einer Gesellschaft, von der aus die eigene kritisiert werden könnte, Bin sei auch keine »satirische Wiederholung der Tageswirklichkeiten im Bilde ihres Gegensatzes«. Bin sei »eine ›empfindsame Reise‹, elegisch, traumhaft, verspielt, zeitweise auch idyllisch … Aber solche Reisen werden nur unternommen, und Bin stellt sich nur ein, wenn es in den ›bürgerlichen Konditionen‹ nicht mehr weitergehen kann.« Weder für den Dichter namens Kilian, der den Zwang des Brotberufs ohne gelegentliche Reise nach Peking nicht erträgt, noch für den Wehrmann, »der bekanntlich noch weniger als irgendein bürgerlicher Mensch jenseits der Chinesischen Mauer herumreisen dürfte«.263
Und nebenbei, in einer »Pinte am Gassenrand«, entdeckt Frisch in Bin auch ein neues poetisches Programm. »Wenn wir nicht wissen, wie die Dinge des Lebens zusammenhängen, so sagen wir immer: zuerst, dann später. Der Ort im Kalender! Ein anderes wäre natürlich der Ort in unserem Herzen, und dort können Dinge, die Jahrtausende auseinanderliegen, zusammengehören, sich gar am nächsten sein, während vielleicht ein Gestern und Heute … einander nie begegnen … Die Zeit, die unser Erleben nach Stunden erfaßt, sie ist eine ordnende Täuschung unseres Verstandes, ein zwanghaftes Bild, dem durchaus keine seelische Wirklichkeit entspricht.« Und er folgert daraus: »Man müßte erzählen können, so wie man wirklich erlebt.« Denn