Zorn und Freundschaft. Max Frisch 1911-1991. Urs Bircher
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Bin
oder Der Architekt als Freizeitschriftsteller (1942–1945)
Er habe die Architektur damals als sein Lebensziel begriffen und hauptberuflich als Architekt gearbeitet, berichtete Frisch. Nur in der Freizeit sei er Schriftsteller gewesen. Für unerwartete Einfälle habe allerdings immer ein Notizheft bereit gelegen. Die Selbstaussage ist nicht falsch, doch sie verschweigt, daß der Architekt Frisch oft keine Arbeit hatte und deshalb über viel Freizeit verfügte. Zwischen 1943, dem Jahr der Eröffnung des eigenen Büros, und 1947, dem Baubeginn des Letzigrabenbads, hatte er keinen einzigen Auftrag und beteiligte sich nur an zwei Wettbewerben. Wenn er (bis 1945) nicht im Aktivdienst war, nutzte er seine Zeit zum Schreiben. Im Frühjahr 1943 war ein neuer Roman erschienen.
J'adore ce qui me brûle oder Die Schwierigen
Er erzählte die Geschichte Jürg Reinharts bis zu dessen Tod weiter. Als Jugendgeschichte war dem neuen Text eine stark gekürzte Fassung des im Buchhandel nicht mehr erhältlichen Romanerstlings Jürg Reinhart vorangestellt215 .
Frisch schrieb mit dem neuen Roman also keine Fortsetzung von Antwort aus der Stille. Das hatte literarische Gründe, aber nicht nur. Es zeigte auch an, daß die Bescheidung in die bürgerliche Normalexistenz, die Frisch in der »Bergerzählung« vorgeführt hatte, für ihn nun keine Lösung mehr darstellte. Was ihm, der als Architekt wie als Dichter begabt zu sein schien, jetzt auf den Nägeln brannte, war nicht mehr das entweder Dichter oder Bürger, sondern die mögliche Vereinigung beider Lebensweisen. Zum dritten Mal machte Frisch im neuen Text die Vorausschau der eigenen Lebenssituation zum Thema.
In drei Teilen spielte er drei mögliche Konstellationen durch. Hinkelmann oder ein Zwischenspiel heißt der erste Teil. Heinrich Hinkelmann – der Name erinnert an Faust und Winckelmann – ist ein erfolgreicher Archäologe in Frischs Alter aus gutbürgerlich deutschem Pastorenhaus. Als geistiger Vorfahre des Homo Faber besitzt er »eine Art von harmlos-unerschütterlichem Selbstvertrauen, eine angstlose Zuversicht, daß ihm nichts in der Welt wirklich mißlingen könnte«.216 Er verliebt sich in Yvonne, die Tochter eines in Griechenland ansässigen, reichen Schweizers. Man heiratet und erprobt drei Jahre lang die Normalehe. Yvonne verwandelt sich innert kurzem von der Geliebten zur Mutterfigur, »deren Ziel es ist, daß ihr Mann ein möglichst großer Mann würde, und die im übrigen keine Rechte auf ihn hat«217 . Als Yvonne ein Kind erwartet, reagiert Hinkelmann unerfreut. Ein Kind hat keinen Platz in seiner Beziehung zur Ehefrau/Mutter. Yvonne ist von dieser Reaktion enttäuscht und verläßt ihren ›unmännlichen‹ Mann. Sie kehrt in die Schweiz zurück, um das Kind abzutreiben. Ihre Begründung: »Man bekommt kein Kind von seinem Sohn.«218
Im Erscheinungsjahr des Romans war Frischs Tochter Ursula, ein Jahr später der Sohn Hans Peter zur Welt gekommen. Frischs rückblickender Kommentar zu den Geburten ähnelt Hinkelmanns Reaktion. Hinkelmann: Er war »bereits unterrichtet, daß ein Kind in Aussicht stand, im Grunde wenig entzückt, aber ritterlich genug, seine männliche Eigensucht zurückzustellen und ihre weibliche Freude nach bestem männlichen Vermögen mitzumachen …«.219 Frisch: »Als jüngerer Mann habe ich mir Kinder nicht eigentlich gewünscht; die schlichte Nachricht, daß ein Kind gezeugt worden ist, hat mich gefreut, der Frau zuliebe.«220
Nachdem Yvonne ihn verlassen hat, bricht für Hinkelmann die Welt zusammen. Er bringt sich um. Die bürgerliche Normalehe, so das Fazit des ersten Romanteils, bringt keine Lebenslösung.
Im zweiten Teil, Turandot oder Das Heimweh nach der Gewalt, begegnen sich Jürg Reinhart und Yvonne in der Schweiz. Jürg ist Maler geworden und bemüht sich mit aller Kraft um künstlerische Selbstverwirklichung. Yvonne versucht mit Geigenunterricht und Büroarbeit ein materiell eigenständiges Leben zu führen. Sie sieht in Jürg einen verlockenden Ausweg aus ihrem unbefriedigenden Dasein als alleinstehende Frau.221 Reinharts Lebenscredo beeindruckt sie: »Alles, was man so Erziehung nennt, ist eine Schule der Verheimlichung, Angst ist unser Erbe, Angst, geboren aus der Verheimlichung alles Wirklichen, alles Ungemütlichen, alles Ungeheuren, das da ist … Wie sollten wir dankbar sein, daß wir leben! daß wir Wesen sind, die vergehen, die all das Zeitlose schauen und mit Schauer begreifen, daß sie sterben müssen, immerzu, damit sie die Schönheit begreifen … Man müßte auch danken können für den Schmerz, für die Angst, für den Ekel, für die Öde, für die schiere Verzweiflung, für alles, was unser Herz erlebt, alles innerlich Wirkliche, was den Bogen unsers Lebens spannt, auch für das Ewig-Unsichere, das unser Leben in der Schwebe hält wie eine glühende Kugel!«222
Die Liebesbeziehung der beiden ist stürmisch und jenseits bürgerlicher Konventionen. Doch auf Dauer setzt sich das »typisch Weibliche« durch: Yvonne erträgt das »Ewig-Unsichere« nicht. Sie will ein Kind, will ein Heim, will Sicherheit, will die Ehe mit einem Mann, der für sie sorgt. All das kann und will Jürg nicht. Darum verläßt sie ihn und heiratet Hauswirt (nomen est omen), einen »breitschultrigen, gelassenen, unerbittlichen« Industriellen, vor dem die Arbeiter dastehen wie dumme Jungs. Hauswirt ist der »echte« Mann, der nicht Rätsel löst, sondern zupackt. Hauswirt erobert Yvonne und wird unwissend zum Vater des Kindes, das diese noch von Jürg empfangen hatte. Fazit: Die zweite Variante: Bürgerin lebt in freier Liebe mit Künstler, scheitert ebenfalls.223
Ist aber Yvonnes Ehe mit Hauswirt die Lösung? Yvonne »ging den gleichen Weg, den sie ihrer Mutter nie hatte verzeihen wollen: sie heiratete den Mann, der sicher für sie sorgen konnte …«, ohne ihn wirklich zu lieben.224 Reichlich skeptisch klingt das Lob der Ehe im Roman durch den eben frisch verheirateten Roman-Autor: »Ein Wunderbares ist es um die Ehe. Sie ist möglich, sobald man nichts Unmögliches von ihr fordert, sobald man über den Wahn hinauswächst, man könne sich verstehen, müsse sich verstehen; sobald man aufhört, die Ehe anzusehen als ein Mittel wider die Einsamkeit. Dort liegt das Unmögliche! Sobald man ein Gefühl davon gewinnt, daß die Ehe einfach ein Dienst ist, ein Verfahren fürs tägliche Leben.«225 Kant hatte Klartext gesprochen, als er die Ehe einen lebenslänglichen Vertrag zur wechselseitigen Benutzung der Geschlechtsorgane nannte. Auch die bürgerliche Ehe scheint keine befriedigende Lösung zu bieten.
Der dritte Romanteil – J'adore ce qui me brûle oder die Entdeckung – probiert einen vierten Weg aus: Der Künstler ist ein Angestellter geworden und will nun Hortense, eine Tochter aus dem Großbürgertum, heiraten. Der Bezug zur eigenen Situation liegt nahe. Jürg hatte, nicht anders als Frisch, nach »neun Jahren, die sich als Irrtum erwiesen«,226 seine Bilder im Wald verbrannt und eine Anstellung als Zeichner in einem Architekturbüro angenommen. Zufällig begegnet er Hortense, die Jahre zuvor seine Malschülerin und heimliche Verehrerin gewesen war. Vergeblich versucht Jürg ihr klar zu machen, daß jene jugendbewegten Zeiten vorbei sind. »Was bin ich denn? Ein Mann von dreißig Jahren, der just sein eigenes Brot verdient. Hälfte des Lebens, Menschenskind, Hälfte des Lebens! Wann wird man denn endlich erwachen und aufstehen? … Wann fängt es denn an, das wirkliche, das sinnvolle Leben?«227
Hortense will nach Paris, will mit Jürg ein freies Bohème-Leben führen. Doch Jürg denkt inzwischen bürgerlich über die Ehe: »Das größte Abenteuer …, das es einzugehen gibt, schien ihm die Ehe, das Wagnis einer ganzen Bindung, Verpflichtung an ein Rätsel, das uns überdauert.«228 Er macht Hortense einen Heiratsantrag, sie zögert. Ihr Vater, Armeeoberst, Gutsbesitzer, Patrizier (man ist an Constances Vater erinnert), widersetzt sich der Mésalliance, indem er rassische Bedenken vorbringt: Jeder Hundeliebhaber vermeide aus Hochschätzung vor der Rasse einen Bastard. Auch die Menschen hätten »ein eingeborenes