Wenn Sie kein Feigling sind, Herr Pfarrer. Suzann-Viola Renninger

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Wenn Sie kein Feigling sind, Herr Pfarrer - Suzann-Viola Renninger

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in der Zürcher Bibel ­lautet: «Gepriesen sei der Herr Tag für Tag, der uns trägt, der Gott, der unsere Hilfe ist» (Psalm 68.20).

      Drei Jahre starrte meine Mutter still und stumm an die weiße Decke des Pflegeheims. Dann endlich konnte sie sterben. Meine Geschwister und ich waren dankbar. Doch ich habe heute noch ein schlechtes Gewissen, dass wir damals nicht alle Hebel in Bewegung setzten, um unserer Mutter ein solch grässliches Lebensende zu ersparen.

      Haben Sie jemals daran gedacht, Ihrer Mutter beim Sterben zu helfen?

      Es gab keine legalen Mittel. Ein orales Mittel hätte man ihr nicht geben können, das war damals gar nicht denkbar. Zwar wäre möglich gewesen, sie nicht mehr zu ernähren und so sterben zu lassen. Doch das hätte man niemals gemacht in diesem Heim, das sich übrigens sehr gut um sie kümmerte und ihr die beste Pflege gab. Das kritisiere ich nicht. Doch hätte ich meine Mutter gefragt, ob sie sterben möchte, sie hätte eingewilligt. Sie hätte mit dem Kopf noch Ja oder Nein signalisieren können. Solch ein sinnloses Sterbeleiden hat sie nicht gewollt.

      Und die nicht legalen Mittel?

      Sie denken an den Film «Amour», in dem ein Mann nach fünfzig Jahren Ehe seine gelähmte Frau mit einem Kissen erstickt?

      Ja. Unter anderem.

      Unter einem Kissen zu ersticken, kann ein kurzes Leiden sein. Aber auch ein schreckliches. Wenige Sekunden können da zu einer Ewigkeit werden. In allen Ländern werden hochaltrige Menschen auf diese Weise umgebracht. Viel mehr, als die meisten auch nur ahnen, denn darüber wird nicht gesprochen. Doch ins Pflegeheim auf Besuch gehen, und danach ist die Patientin tot? Da haben Sie gleich den Staatsanwalt im Haus.

      So haben Sie also damals über all diese Möglichkeiten nachgedacht, die legalen wie die nicht legalen?

      Nicht bewusst. Wir haben uns zur Zeit des Leidens meiner Mutter keine Rechenschaft darüber abgelegt, ob wir ihr hätten helfen sollen zu sterben. Noch in den Achtzigerjahren war der Nimbus der Ärzte in den weißen Kitteln immens. Erst der Ster­bewunsch des Gemeindemitglieds konfrontierte mich mit dem Gedanken, dass wir unter Umständen verpflichtet sein können, Angehörigen solch einen Wunsch zu erfüllen. Doch damals lag dies nicht innerhalb des Denkhorizonts, auch nicht in meinem.

      Über dreißig Jahre habe ich als Seelsorger Menschen im Endstadium Krebs besucht. Immer wieder hörte ich ihr Klagen: «Herr Pfarrer, warum kann ich nicht sterben? Herr Pfarrer, warum lässt Gott mich so leiden? Herr Pfarrer, die Schmerzen machen mich kaputt.» Eine Antwort hatte ich nicht. Ich verließ die Betten dieser Menschen mit einem grässlichen Elendsge­fühl.

      Wir können heute kaum noch ermessen, wie sehr eine Organisation wie Exit die Notwendigkeit der Sterbe- und Freitodhilfe ins Bewusstsein der Menschen gebracht hat. Das war vor bald vierzig Jahren. Die Zeit war reif. Die «Affäre Haemmerli» hatte die Schweiz aufgewühlt.

      Herr Kriesi, eine letzte Frage für heute: Bezeichnen Sie sich selbst als Sterbehelfer? Oder als Freitodbegleiter?

      «Sterbehelfer» ist neutraler. Anderseits ist der Begriff von den Leuten besetzt, die tage- und nächtelang am Bett eines Sterbenden sitzen, mit diesem sprechen oder beten und Handreichungen bieten, wie Zunge feuchten, Stirne kühlen und Kissen schütteln. In den meisten Krankenhäusern und Pflegeheimen arbeiten solche Menschen – in der Regel ehrenamtlich –, und oft betonen sie energisch, sie würden nicht zum Sterben, sondern beim Sterben helfen, meist im Ton einer eher gehobenen Moralität gegenüber den Helfern beim assistierten Suizid. Viele dieser Leute haben ein starkes Bedürfnis, sich von den Sterbehelfern abzugrenzen, die bei Organisationen wie Exit arbeiten. Ich selbst ziehe für mich die Bezeichnung Freitodbegleiter vor.

      Die Affäre Haemmerli 1974

      Die «Affäre Haemmerli», wie sie bald genannt wird, beginnt im Dezember 1974, als sich Urs Peter Haemmerli, Chefarzt der Medizinischen Klinik am Zürcher Stadtspital Triemli, an die Zürcher Stadträtin Regula Pestalozzi wendet. Die Juristin ist als Vorsteherin des Gesundheits- und Wirtschaftsamts seine politische Vorgesetzte. Er vertraut ihr an, wie die «Neue Zürcher Zeitung» bald darauf berichtet, «was in medizinischen Kreisen, aber auch darüber hinaus, längst bekannt ist – auch wenn man nicht gerne davon gesprochen hat».1 In einzelnen Fällen werde hoffnungslos Kranken, die gelähmt und nicht mehr bei Bewusstsein sind, nur noch Wasser zugeführt. Diese Beschreibung ergänzt Urs Haemmerli mit der Bemerkung, dass seine Klinik überbelegt sei.

      Die Stadträtin ist schockiert und kommt zum Schluss, dass der Tatbestand der vorsätzlichen Tötung erfüllt sein könne. Rund einen Monat später informiert sie die Zürcher Staatsanwaltschaft. Kurz darauf klingeln Kriminalbeamte am frühen Morgen an der Haustür des Chefarztes, teilen ihm mit, er sei verhaftet, durchsuchen ihn nach Waffen und nehmen ihn mit zum Verhör. Der Verdacht: Er würde Patienten die Nahrung entziehen, um ihr Ableben zu beschleunigen und so dem Bettenmangel in seiner Klinik zu begegnen.

      Die Wellen schlagen hoch. Urs Haemmerli wird von seinem Chefarztposten freigestellt. Doch er – und nicht die Stadträtin, nicht die drohende Anklage – erhält viel Zuspruch. Die «Neue Zürcher Zeitung» berichtet, im Ton sachlich und das verständnisvolle Wohlwollen nicht verbergend. Das Klinikpersonal solidarisiert sich, die Medizinische Fakultät der Universität Zürich spricht ihm das Vertrauen aus. In weiten Kreisen der Bevölkerung erhält sein Tun hohe Zustimmung. In einer Stellungnahme zu Händen der Presse schreibt der Beschuldigte:

      «Ich habe gegenüber meinen Patienten nie etwas getan oder angeordnet, was ich nicht bei meiner Mutter oder bei meinem Vater tun würde, wenn sie in der gleichen Lage wären wie der betreffende Patient. Wenn ich selber als Patient in der gleichen Lage wäre, würde ich mir von meinem behandelnden Arzt dasselbe Vorgehen wünschen.» Er fragt: «Unter welchen Umständen ist ein Arzt nicht mehr verpflichtet, weitere Bemühungen zur Lebensverlängerung eines unwiderruflich be­wusstlosen und sicher dem Tod geweihten Patienten zu un­ter­nehmen?»2

      Die Affäre wird europaweit diskutiert. Ende Jahr reist Urs Haemmerli nach New York City und hält einen Vortrag am 8. Jahreskongress des amerikanischen Bildungsrats zur Eutha­nasie. Die «New York Times» titelt am 7. Dezember 1975: «Arzt stellt Veränderung in der Haltung zur Euthanasie fest». Das Blatt hält aus seinem Vortrag fest, dass die enormen technischen Fortschritte in der Medizin es in den letzten Jahren möglich gemacht hätten, unheilbar kranke Patienten auf unbestimmte Zeit zu versorgen. Wir müssten uns daher wie nie zuvor der Frage stellen, ob wir sie auf natürliche Weise sterben lassen sollen. Das Fazit des Schweizers in den USA: «Ich denke (…), dass passive Euthanasie schließlich legalisiert werden wird.»3

      Urs Haemmerli hatte mit Blick auf die Schweiz insofern unrecht, als die passive Euthanasie – im deutschsprachigen Raum meist «passive Sterbehilfe» oder als «sterbenlassen» bezeichnet – in der Schweizer Gesetzgebung juristisch nie ausdrücklich sanktioniert war. Sie wird aber, wie der Ausgang der Affäre Haemmerli und die weiteren Entwicklungen zeigen werden, unter gewissen Bedingungen «als erlaubt ange­sehen», so die Formulierung des Bundesamtes für Justiz.4 1976, ein Jahr nach der Strafanzeige, stellt die Zürcher Staatsanwaltschaft das Verfahren ein. Urs Haemmerli ist rehabi­li­tiert.

      Werner Kriesi erzählt

      Andelka. Eine junge Mutter mit Krebs

      Neben dem Hauseingang finde ich fünf Klingelknöpfe, alle in kaum leserlicher Handschrift angeschrieben. Eine dunkle, verwinkelte Treppe führt hinauf zur Wohnung. Hier wohnen Ausländer, die in der Schweiz Arbeit gefunden haben. Der Ehemann Andelkas bittet mich freundlich hinein. Einfache, gepflegte Zimmer mit ringsherum großen Fenstern. Ein etwa dreijähriges Mädchen fährt in forschem Tempo mit einem Dreirad vom Gang in die Stube, rings um den Stubentisch, wieder in den

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