Wenn Sie kein Feigling sind, Herr Pfarrer. Suzann-Viola Renninger
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Auch telefoniere ich immer am Vorabend, um zu hören, wie es diesem Menschen geht, der seine letzte Nacht vor sich hat. Dann spüre ich, ob sie oder er wirklich entschlossen ist. Es kommt vor, dass die Person dann absagt oder verschiebt. Und ich werde es immer wieder betonen: Gerade weil die Menschen unsicher sein und ausprobieren dürfen, fühlen sie sich entlastet und können sich danach zum Weiterleben entschließen. Dieser ganze Weg der Freitodvorbereitung ist ein Weg der Klärung: Passt diese Art des Freitods für mich oder nicht? Und daher beendet rund ein Drittel der Menschen diesen Weg auch nicht mit dem assistierten Freitod, sondern wählen eine andere Abzweigung.
Einmal war ich einem Altersheim, um einen über achtzigjährigen Mann zu begleiten. Er war die Wochen zuvor immer wieder sehr ärgerlich, dass die Vorbereitung so lange dauere. Ständig drängte er mich, alles zu beschleunigen. Nun saß er am Bettrand, das Glas mit dem Sterbemittel in der Hand. Er schaute hinein. Sonst nichts. Er saß einfach nur da und schaute ins Glas. Da habe ich gesagt: «Wollen Sie mir das Glas zurückgeben? Kommen Sie, wir stellen das Glas auf die Seite …» Ich hatte den Eindruck, dass er sich dies nicht traute, weil er zuvor so gedrängt hatte. Er schwieg. Ich sagte: «Es ist selbstverständlich, dass Sie zweifeln. Das können Sie mit bestem Gewissen.» Er schwieg. Die Knöchel der Hand, die das Glas umklammerten, wurden weiß. Schließlich murmelte er: «Ja, ich will es mir nochmals überlegen.» Eine Zeit lang habe er gedacht, es müsse endlich vorwärtsgehen. Doch jetzt würde er merken, dass er noch zu sehr am Leben hänge. Wir haben uns dann in einer sehr guten Stimmung voneinander verabschiedet. Er war gelöst und zufrieden. Später habe ich erfahren, dass er ein Vierteljahr danach ohne Exit gestorben sei.
Nachdem Judith ein fünftes Mal abgesagt hat, haben Sie nichts mehr von ihr gehört?
In einer solchen Situation nehme ich, nimmt Exit, nicht wieder Kontakt auf. Wir bleiben passiv, machen alles abhängig von einer erneuten Initiative der Person. Alles andere könnte als Druck empfunden werden. Übrigens ist dies auch einer der Gründe, warum Exit nur Menschen mit Wohnsitz in der Schweiz begleitet. Wer eine lange Reise in die Schweiz unternommen hat, wird es schwerer haben, einen einmal ins Auge gefassten Sterbetermin aufzuschieben. Und so könnte der Druck wachsen, den Termin einzuhalten.
Lebensverlängerung als Sterbeverlängerung
Auch meine Großmutter, die Mutter meiner Mutter, erlitt einen Hirnschlag. Das war im Jahre 1931. Als es passierte, betteten ihre Angehörigen sie aufs Sofa und eines ihrer Kinder fuhr mit dem Velo ins Nachbardorf. Doch der Arzt war auf Krankenbesuchen unterwegs. Er würde, so hieß es, am Abend, jedenfalls so bald wie möglich, vorbeikommen. Als er meine Großmutter untersuchte, empfahl er, ein befeuchtetes, kühles Tuch auf ihre Stirn zu legen und zu warten. Mehr könne man im Moment nicht tun. Dann ging er wieder zurück in sein Dorf. In der darauffolgenden Nacht starb meine Großmutter, ohne nochmals aus ihrer Bewusstlosigkeit erwacht zu sein. So kam es, dass sie in ihrem Bett zu Hause sterben konnte. Ohne Ambulanz. Ohne Blaulicht. Ohne Magensonde. Ohne wochen-, monate-, jahrelanges Leiden, gelähmt und sprachlos in einem Pflegeheim. Ich bin mir sicher, meine Mutter hätte sich nach ihrem letzten Hirnschlag einen sanften, raschen Tod wie den ihrer Mutter gewünscht.
Ich möchte damit nichts gegen den Fortschritt der Medizin sagen. Er ist in vielerlei Hinsicht ein Segen. Die Ärzte, die meine Mutter behandelten, entschieden sicher nach bestem Wissen und Gewissen, in der berechtigen Hoffnung, ihr noch einige Lebensjahre zu schenken. Dass es dann zu diesem dreijährigen Sterbemartyrium kam, ist eine unbeabsichtigte Folge. Doch mehr als fünfzig Jahre zuvor, zu der Zeit, als meine Großmutter starb, kannten wir diese Probleme nicht. Es gab keine Möglichkeiten, einen bewusstlosen Menschen künstlich zu ernähren und ihn so am Leben zu erhalten.
Die Entwicklungen der Medizin in den letzten siebzig Jahren haben dazu geführt, dass bei Schwerkranken und Sterbenden der Tod hinausgeschoben und das Leben verlängert werden kann. Doch der Gewinn an Lebenszeit kann für die Betroffenen zur Qual werden. Andelka und Judith sind tragische Beispiele, wie selbst die beste medizinische Behandlung zur Folter werden kann.
Folter. So ein Begriff schießt nun doch übers Ziel hinaus. Folter meint ja das absichtsvolle Zufügen von physischen und psychischen Qualen, um den Willen des Opfers zu brechen oder um es zu demütigen.
Von vielen Leidenden hört man: Meine Schmerzen foltern mich Tag und Nacht. Davon bin ich wohl beeinflusst. Was meiner Mutter, was den beiden jungen Frauen passierte, war von niemandem so geplant. Die Behandlungen sollten das Leben verlängern und führten doch gleichzeitig zu einem Zustand, der für die Patientinnen quälend war. Auch wenn meine Mutter es nicht äußern konnte, so hatte sie doch ebenso wie die beiden jungen Frauen den sehnlichsten Wunsch, aus diesem Leib und Seele zermürbenden Zustand durch den Tod erlöst zu werden.
Nun waren die Situationen ja sehr unterschiedlich. Ihre Mutter war über siebzig und gelähmt. Andelka war terminal an Krebs erkrankt, und ihr rascher Tod war absehbar. Judith schließlich, jung wie Andelka, hatte dank Medizin gleichwohl noch eine Spanne an Lebenszeit vor sich.
Doch bei allen drei Frauen wurde das Sterben durch die Medizin verlängert, ob es nun Wochen, Monate oder Jahre waren. Am längsten bei Judith. Bei ihr folgte ein Spitalaufenthalt auf den anderen. Sechs Jahre lebte sie von Operation zu Operation. Die Tage waren eingeteilt durch die stündlichen Morphiumspritzen, ohne die sie die Schmerzen nicht auszuhalten vermochte. Die fünf Operationen nach dem Darmdurchbruch änderten an ihrem aussichtslosen Leiden nichts. Diese medizinischen Behandlungen mussten selbstverständlich gemacht werden, sie hatten aber eine paradoxe Wirkung. Sie verlängern Judiths Leben – und zugleich ihr Sterben.
Sie sprechen also dann von Sterbeverlängerung, wenn die Medizin einen Menschen zwar am Leben erhält, ihn jedoch nicht mehr heilen, seine Situation nicht mehr verbessern kann?
Ja.
War diese Art der medizinischen Behandlung nicht der Wunsch von Judith? Sah sie es denn auch so, dass zugleich mit ihrem Leben auch ihr Sterben verlängert wurde?
Judith war beseelt vom Willen, am Leben zu bleiben. Doch in der Phase, als sie mit Exit Kontakt aufnahm, hatte sie begonnen, ihre Behandlungen nicht mehr zu ertragen. Sie wollte sich keiner weiteren Operation mehr unterziehen. Sie hatte den Wunsch, diese Qual zu beenden. Auch wenn sie sich dann anders entschied und nicht mit Exit aus dem Leben ging.
Die Volksabstimmung 1977: Eine Panne der Demokratie?
«Die unterzeichneten Stimmberechtigten des Kantons Zürich verlangen: Der Kanton Zürich reicht gemäß Artikel 93 der Bundesverfassung eine Standesinitiative mit folgender Forderung ein: Die Bundesgesetzgebung ist dahingehend zu ändern, dass die Tötung eines Menschen auf eigenes Verlangen straffrei ist, falls folgende Voraussetzungen erfüllt sind …»14
Die «Volksinitiative Sterbehilfe auf Wunsch für Unheilbar-Kranke», 1975 lanciert, wird von keiner Partei unterstützt. Regierung und Parlament stehen ihr ablehnend gegenüber. Das Zürcher Stimmvolk, davon unbeeindruckt, nimmt sie zweieinhalb Jahre später, am 25. September 1977, mit fast 60 Prozent Ja-Stimmen an.
War dieses vom politischen Establishment unerwünschte Ergebnis eine «Panne der Demokratie»?15 War die Bevölkerung überfordert und wusste nicht, was sie tat? Hatte die «heftige öffentliche Diskussion um den Fall Haemmerli» zu Missverständnissen beigetragen? Das Eidgenössische Parlament muss reagieren. Eine Kommission wird eingesetzt.
Urs