Wenn Sie kein Feigling sind, Herr Pfarrer. Suzann-Viola Renninger
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Die Lebensfremdheit der Kirche
Herr Kriesi, zwar war und ist die Wirkung der Tradition, die sich auf Augustinus und Thomas von Aquin beruft, noch immer mächtig, doch kaum ein Pfarrer in der Schweiz wird noch mit dem «ewigen Feuer» argumentieren.
Kaum ein Pfarrer innerhalb der Schweizer evangelischen Landeskirchen, ja. Aber innerhalb der evangelikalen Religionsgemeinschaften, da wirkt diese Tradition durchaus noch mit Macht. Wie oft passierte es mir während meiner Vorträge zur Freitodhilfe, dass da einer aufstand, die Bibel hochhielt und ins Publikum rief: «In meiner Bibel steht geschrieben: Meine Zeit steht in Gottes Händen!» Und selbst wenn vom «ewigen Feuer» in den Predigten der Landeskirche nicht länger die Rede ist: Unterschätzen Sie nicht, wie tief sich die kirchliche Verdammung des Suizids im Volksglauben eingenistet hat. Das haben wir ja etwa an Andelka gesehen. Tagtäglich habe ich es während meiner Arbeit als Pfarrer und später dann auch als Freitodbegleiter erlebt, wie sehr die Menschen weiterhin von diesen Vorstellungen umgetrieben werden. Egal welche Herkunft, egal welche Schulbildung. Egal ob Akademiker oder Handwerker. Viele leiden, weil in späteren Jahren der oft verschüttete Kindheitsglaube wieder hochkommt und damit die panische Angst, dass Gott sie verdamme. Erst gestern telefonierte ich mit einem Freund, fast so alt wie ich, er war bis zu seiner Emeritierung Professor für Psychiatrie. Er erzählte mir, wie tief beunruhigt und verängstigt er sei, wenn er an das Jüngste Gericht denke.
Mord und Genozid, Blutrache und Krieg, Todesstrafe und Menschenopfer. Gewaltsam gestorben wird in der Bibel reichlich. Mit wenigen Ausnahmen sind es keine Selbsttötungen. Das Alte Testament berichtet von König Saul, der sich ins Schwert stürzt, von Samson, der einen Tempel über sich zusammenbrechen lässt, oder von Abimelech, der einem seiner Soldaten befiehlt, ihn zu töten. Verurteilt wird dies nicht, auch nirgends verboten. Alle Selbsttötungen sind die Folge von Ehrverletzung oder Demütigung. Und nicht einer unheilbaren Krankheit oder eines unerträglichen körperlicher Leidens.
Diese spielten damals auch lange keine so große Rolle wie inzwischen in unseren Gesellschaften. In der Bibel waren in dieser Hinsicht die Verhältnisse kaum anders als noch bei uns vor zwei Generationen. Das durchschnittliche Alter, das man über Jahrtausende erreichte, betrug ungefähr 45 Lebensjahre. Seit dem letzten Jahrhundert steigt die Lebenserwartung. Noch Anfang der 1930er-Jahre erlebten 96 von 100 Menschen den siebzigsten Geburtstag nicht. Inzwischen werden wir durchschnittlich über achtzig Jahre alt. Dank dem Wohlstand, den geordneten politischen Verhältnissen und der hochentwickelten Medizin wird uns somit etwas geschenkt, was sich frühere Generationen nur erträumen konnten. Die paradoxe Kehrseite ist, dass dieses lange Leben zu ethisch-moralischen Problemen führt, von denen unsere Vorfahren keine Ahnung haben konnten. Die unerträgliche Situation, in die viele todkranke Menschen geraten sind, ist ja erst entstanden, weil die Medizin das Sterben immer weiter hinauszögern kann. Daher ist es so lebensfremd, so pathologisch auch, wenn die Kirche noch heute das Dogma von Thomas von Aquin vertritt, das er vor bald tausend Jahren, im Hochmittelalter, entwickelt hat. Die Lebenswelt damals hat doch nichts mit der heutigen Zeit zu tun! Wie kann man sich da noch auf den allmächtigen Gott, den Herrn berufen, der in seinem «unerforschlichen Willen» die Todesstunde eines Menschen bestimmt, um ihn zu sich in die «ewige Heimat» zu rufen?
Sie meinen, da wir den Tod mit unseren wissenschaftlichen Errungenschaften immer weiter hinauszögern können, haben wir auch die Verantwortung für den Verlauf unseres Lebens bis zum Ende mehr und mehr in die eigenen Hände genommen – die Kirche jedoch weigert sich weiterhin, uns auch für den Zeitpunkt des Todes ein Mitspracherecht zuzugestehen?
Wie oft höre ich von kirchlichen Kritikern: «Gott selbst hat uns das Leben geschenkt. Gott allein ist der Herr über Leben und Tod, und deswegen hat der Mensch kein Recht, selber über sein Ende zu entscheiden.» Diese theologisch-dogmatische Formel dient den Kirchen in allen Fragen der Sterbehilfe als Fundament und Richtschnur und zugleich als Begründung der Ablehnung. Von Bischofskonferenzen, Pfarrkonventen, Kirchenleitungen, in kirchlichen Publikationen jeglicher Couleur – und nicht zu vergessen, von der römischen Kurie – lesen und hören wir diese theologisch-stereotype Formel in endloser Wiederholung. Sie müssen dafür nur das soeben erschienene Schreiben der Glaubenskongregation des Vatikans lesen. Es trägt den Titel: «Schreiben über die Sorge an Personen in kritischen Phasen und in der Endphase des Lebens».24
In Ländern mit mehrheitlich katholischer Bevölkerung und einer gehorsamen Priesterschaft wird dieser Text eine enorme Wirkung entfalten. Aber nicht nur im Blick auf den assistierten Suizid, sondern auch auf andere Formen der Sterbehilfe. Ich denke an Heime und Kliniken, die von der katholischen Kirche geführt werden. Die autoritär verordnete Verweigerung der Sterbesakramente im Falle eines assistierten Suizids trifft nicht wenige katholisch erzogene Menschen mitten ins Herz. Das mag auch für solche gelten, die sich von der Kirche gelöst haben. Auch katholisch-gläubig gebliebene Angehörige werden sich mit Energie gegen einen assistierten Suizid zur Wehr setzen, wenn sie wissen, dass der Priester die Sterbesakramente nicht erteilen und der Gläubige die Krankensalbung nicht empfangen darf. Lesen Sie nur diesen Abschnitt hier aus dem vatikanischen Schreiben. Es geht um diejenigen, die ausdrücklich eine Sterbehilfeorganisation um assistierten Suizid gebeten haben. Diese sollen nur dann die Sakramente erhalten, wenn sie ihre Entscheidung ändern, somit zum «Büßer» werden, wie es heißt:
«In Bezug auf das Sakrament der Buße und Versöhnung muss der Beichtvater sich vergewissern, dass es Reue gibt, die für die Gültigkeit der Lossprechung notwendig ist, und die als ein ‹Schmerz der Seele und ein Abscheu über die begangene Sünde, mit dem Vorsatz, fernerhin nicht mehr zu sündigen› charakterisiert wird.»
Auch ohne die explizite Drohung mit dem ewigen Feuer wird hier am dogmatischen Fundament der römisch-katholischen Kirche weitergemauert und somit eine brutale Härte gegenüber leidenden Menschen an den Tag gelegt.
Von der gesamten Schweizer Wohnbevölkerung waren 2018 knapp 40 Prozent Mitglied der römisch-katholischen und knapp 25 Prozent der evangelisch-reformierten Kirche.
Unterschätzen Sie auch daher nicht, wie einflussreich die Haltung der katholischen Kirche zur Freitodhilfe weiterhin ist. Ein Beispiel vom vergangenen Jahr: Im Wallis wurde diskutiert, ob in öffentlichen Altersheimen, die vom Staat mitfinanziert werden, der assistierte Suizid zugelassen werden darf. Der Pfarrer Paul Martone nahm in einer Pressekonferenz in Sitten dazu Stellung. Die katholische Kirche respektiere den begleiteten Suizid, könne ihn jedoch nicht gutheißen. Das ist eine recht jesuitisch-raffinierte Aussage. Im Hinblick auf die hohe Akzeptanz der Suizidhilfe in der Schweizer Bevölkerung und zugleich unter Berücksichtigung der kirchlichen Obrigkeit stellt Pfarrer Paul Martone beide Parteien ein bisschen, wenn auch nicht ganz, zufrieden. Der Walliser Bischof Jean-Marie Lovey war da eindeutiger und sagte, dass der Wunsch nach Beihilfe zum Suizid weit davon entfernt sei, Ausdruck der Selbstbestimmung des Menschen zu sein: «Die Beihilfe zum Suizid ist ein schwerer Angriff auf das Leben des Menschen, das die christliche Botschaft von seiner Empfängnis bis zum natürlichen Tod schützen will.»25
Bei den Protestanten klingt es vergleichsweise moderat, Sie würden wohl sagen jesuitisch: In einer Vernehmlassungsantwort des Kirchenrats des Kantons Zürich von 2010 heißt es etwa, dass er die Beihilfe zum Suizid im Grundsatz für «äußerst problematisch» halte, dass er aber «Suizid und die Beihilfe dazu, die aus innerer Not geschehen», nicht verurteile.26
Doch in dem Dokument steht auch die Forderung, «bei den Leidenden auszuharren» und «Geborgenheitsräume zu schaffen, die ihr Leiden lindern». Aus Sicht des Zürcher Kirchenrats geschieht das offenbar zu wenig, und daher sieht er hier ein Versagen