Wenn Sie kein Feigling sind, Herr Pfarrer. Suzann-Viola Renninger
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Die entscheidende Frage ist: Warum soll es nicht dennoch möglich sein, im Rahmen der Conditio humana, der nun mal unabweisbaren Umstände des Menschseins, unserer Fragilität und Sterblichkeit, glücklich und zufrieden zu sein? Und mit Hilfe der vier antiken Tugenden – Gerechtigkeit, Klugheit, Mäßigung und Tapferkeit –, auch die Entscheidung zu fällen, dass der Weg des Freitods der für uns richtige sein kann? Augustinus spottet: «Ei, welch glückliches Leben, das den Tod zu Hilfe ruft, um ein Ende zu finden! Ist es glücklich, so sollte man es doch festhalten!»
Und was rät er selbst? Augustinus ruft zur Geduld auf, zur Hoffnung aufs Himmelreich, aufs Jenseits, «denn wir stecken in Übeln, und die müssen wir geduldig ertragen, bis wir zu jenen Gütern gelangen, wo alles von der Art sein wird, dass wir uns daran unsagbar erfreuen, und nichts von der Art, dass wir es noch ertragen müssten. Solch ein Heil, wie es in der künftigen Welt eintreten wird, wird zugleich die vollendete Glückseligkeit sein.»
Die Kirche wird Augustinus folgen. Die Verdammung der Selbsttötung wird zur offiziellen Position und prägt die gesellschaftliche Meinung bis heute. Die Gleichstellung von Mord und Selbstmord zeigt sich auch in der Art der Bestrafung. Bis ins 16. Jahrhundert wird etwa in der Schweiz die Leiche des Selbstmörders aufgehängt, gerädert, enthauptet – hingerichtet also, als sei sie ein lebendiger Verbrecher. Danach wird sie vom Scharfrichter, nicht von einem Geistlichen, außerhalb des Friedhofs verscharrt oder in einem Fass in den Fluss geworfen.
Im 19. Jahrhundert setzt sich mit der aufkommenden modernen Psychiatrie die Idee durch, Selbstmord sei eine geistige Krankheit. Die juristischen Sanktionen werden durch wissenschaftliche Erklärungsansätze abgelöst. Doch noch im frühen 20. Jahrhundert wird Menschen, die sich selbst das Leben genommen haben, eine gleichwertige Bestattung auf Friedhöfen verweigert. Ihre Gräber werden mit einem niedrigen Eisengitter umzäunt, das den Selbstmörder daran hindern soll, als Wiedergänger seine Grabstelle zu verlassen.12
Werner Kriesi erzählt
Judith. Die Operationen helfen nicht
Als ich Judith kennenlerne, ist sie 39 Jahre alt, im selben Alter wie mein jüngster Sohn.
Aus ihrem Zimmer blicken wir auf die umliegenden Wiesen und Obstgärten, die sich frühlingsprächtig vor unseren Augen ausbreiten. Neuere Bauten bilden zusammen mit einigen alten Bauernhäusern ein kleines, idyllisch wirkendes Dorf. Vor mir sitzt, gelassen und ruhig, eine sehr jung wirkende Frau. Sie entschuldigt sich, dass sie unser Gespräch nicht ohne regelmäßige Schmerzmittelgabe durchhalten könne. Sie zieht den Rock ein wenig übers Knie und setzt sich eine Spritze in den Oberschenkel.
Seit ihrer Kindheit leidet Judith an Pankreatitis, einer chronischen Bauchspeicheldrüsenentzündung. Ständig wiederkehrende Schmerzschübe, Übelkeit und Erbrechen quälen sie die gesamte Schulzeit hindurch, ohne dass die Krankheit richtig diagnostiziert wird. Man denkt, sie sei halt ein übersensibles Kind. Nach der Matura studiert sie Ingenieurswissenschaften, muss jedoch wegen der stetigen Schmerzen abbrechen.
«Ich bin zwar noch jung», erzählt sie, «doch ich habe alles gehabt, was das Leben einem Menschen bieten kann, vielleicht dürfen wir gar nicht mehr erwarten. Wir sind geneigt, vor allem in den westlichen Ländern, unsere Erwartungen an das Leben zu überfrachten. Damit sind dann so viele Enttäuschungen verbunden, die gar nicht sein müssten. Ich konnte ja trotz meiner Krankheit in die Schule gehen. Nur einige Semester hätten gefehlt und ich hätte mein Studium mit meiner Masterarbeit beenden können. Einmal war ich mit einem guten Mann verheiratet. Die Trennung war nicht zu umgehen. Ich war zu krank. Das weiß ich heute. Einige Jahre engagierte ich mich beim Schweizerischen Roten Kreuz. Ich habe die Welt kennengelernt! Im Guten wie im Schweren. Es genügt.»
Knapp dreißigjährig erleidet Judith einen akuten Schub. Die Hälfte des Magens, der Zwölffingerdarm, die Galle sowie die Milz müssen operativ entfernt werden. Bald darauf folgt ein Darmdurchbruch. Innerhalb eines Monats wird sie fünfmal operiert. Seither ernährt sie sich nur von Joghurt und allerlei Breispeisen. Mehr als zwanzigmal täglich spritzt sie sich ein Morphiumpräparat, das ihren ganzen Körper betäubt. Ohne diese Keule müsste sie sich, wie sie sagt, an der Wand den Kopf einrennen. Kurz vor Weihnachten vergangenen Jahres hält sie es nicht mehr aus. Sie versucht sich mit einer wilden Mischung von Medikamenten das Leben zu nehmen. Sie wird gefunden und reanimiert. Als sie erwacht, erfasst sie ein Heulkrampf. Sie ist derart verzweifelt, dass sie ihre Retter anschreit.
Judith spricht in aller Ruhe. Sie fürchte sich nicht vor dem Tod, denn sie wisse, dass «das Innere des Menschen» unsterblich sei. Oft würde sie ruhig auf dem Bett liegen und spüren, wie ihre Seele aus ihr herausfließe und spazieren gehe. Sie zeigt auf die blühende Wiese mit den Obstbäumen und sagt: «Schauen Sie dort! Dort ist dann meine Seele. Ich bleibe derweil ruhig auf meinem Bett und atme den Duft der Blüten, den meine Seele zu mir strömen lässt. Wenn meine Seele in den Körper zurückkommt, empfinde ich einen kleinen Ruck in meiner Brust, dieselbe feine Bewegung, mit der sie auch meinen Körper verlässt. Durch die Seelenreisen weiß, ich, es geht weiter. Mein frühes Sterben sagt mir, ich werde an einem anderen Ort gebraucht. Wo und wie, das weiß ich nicht, brauche ich auch nicht zu wissen, aber ich weiß, es geht weiter! Wenn es nicht so wäre, wäre menschliches Leben und Leiden doch ein böser Witz!»
Solche Erlebnisse würde sie sonst niemandem erzählen, denn sie fürchte abschätzige Bemerkungen von Menschen, die kein Verständnis hätten für Erfahrungen, die über den normalen Alltag hinausgehen.
Judith ist nicht lebensmüde, aber ihre seelischen und körperlichen Kräfte sind aufgezehrt. Sie wünscht, an dem Tag sterben zu können, an dem sie geheiratet hatte. An der Wand hängt ihr Hochzeitskleid, in dem sie eingesargt werden möchte. Bei meinem dritten Besuch bestimmt sie den Tag, an welchem sie ihrem Leben ein Ende setzen will. Der Hausarzt hat das Rezept für das Sterbemittel bereits ausgestellt.
Zwei Tage vor dem abgesprochenen Sterbetag ruft sie mich an. Sie sagt ab. Mehrfach vereinbart sie mit mir einen neuen Termin. Nach der fünften Absage höre ich nichts mehr von ihr.
Worüber sprachen Sie bei solchen Anrufen?
Ich sagte Judith, dass es so gut sei, und versicherte ihr, dass sie mit besten Gewissen immer wieder Termine widerrufen könne. Nur sie allein könne wissen und spüren, ob sie ihrem Leben ein Ende setzen wolle und wann der richtige Zeitpunkt sei. Ich sagte, dass sie wieder auf mich zukommen könne, sollte sie einen neuen Termin wünschen. Und dass sie frei sei, auch diesen Termin jederzeit abzusagen.
Fünfmal ein Termin und fünfmal die Absage. Es wirkt, als ob Judith sich nicht sicher war, ausprobierte, was passiert, was sie fühlt und was sie denkt, wenn sie einen Termin festlegt.
Ja, es ist wie eine Art Experimentieren mit der eigenen Seele. Ich habe das oft erlebt. Wenn jemand unsicher ist, schlage ich daher manchmal vor: Setzen Sie mal einen Termin. Und schauen Sie, was Ihre Seele macht und Ihr Bauchgefühl sagt. Bei Judith spürte ich eine schon länger andauernde innere Auseinandersetzung zwischen Lebenswillen und Sterbewunsch. Die Aufgabe eines Freitodbegleiters kann dabei nur sein, in solch einer Situation stützend zu begleiten. Und keinesfalls zu werten, keinesfalls in eine Richtung zu lenken. Und zu betonen, dass man jederzeit absagen und auch jederzeit einen neuen Termin holen könne. Ohne Erklärung. Ohne Rechtfertigung.
Zu den beißenden Kritiken an Exit gehört, dass es um knallhartes Business mit Betriebszielen und Marketing gehe. Dass mit anderen einschlägigen Organisationen um zahlungsbereite Sterbewillige am Todesmarkt konkurriert werde. Und dass es daher auch kein Zurück mehr gebe, hätte jemand einen Termin zum Vorgespräch vereinbart.13