Sprachenlernen und Kognition. Jörg-Matthias Roche

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Sprachenlernen und Kognition - Jörg-Matthias Roche Kompendium DaF/DaZ

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dagegen Präsens und Perfekt überein: R ist simultan mit der Sprechzeit. Das heißt, das Perfekt kann im Deutschen die Sprechzeit mitumfassen und ist, anders als das Präteritum, nicht von dieser ausgeschlossen. Genau aus diesem Grund wird das Präteritum in der Rechtssprache bevorzugt: es bezeichnet abgeschlossene und nicht potenziell in der Gegenwart (Sprechzeit) oder Zukunft noch veränderbare Ereignisse.

kontextuelle Relation
S, RR < S
intrinsische RelationE, RPräsensPräteritum
E < RPerfektPlusquamperfekt

      Abbildung 2.6:

      Intrinsische und kontextuelle Bedeutung deutscher Tempora (Vater 1997: 28)

      Aus den beiden genannten Dimensionen ergibt sich zudem eine dritte Relation zwischen E und S: Perfekt und Präteritum unterscheiden sich in der intrinsischen und der kontextuellen Bedeutung, wie in der Tabelle oben dargestellt, markieren aber die gleiche deiktische Relation, nämlich E liegt vor S. Im Plusquamperfekt ergibt sich folgerichtig eine intrinsische Relation von E vor R und die kontextuelle Relation R vor S (Ehrich & Vater 1989: 119) beziehungsweise nach Klein (1994: 131) für das Englische »TU after TT and TT after TSit«.

PerfektPräteritum
E < RIntrinsische BedeutungE, R
S, RKontextuelle BedeutungR < S
E < SDeiktische InterpretationE < S

      Abbildung 2.7:

      Deiktische Deutung von Perfekt und Präteritum (Vater 1997: 28)

      Funktionale Aspekte der Temporalität

      Tempora können darüber hinaus auch kognitiv relevante, textuelle Funktionen übernehmen, indem sie Hinweise auf die Lokalisierung und Verarbeitung von Vorwissen beziehungsweise auf einen bestehenden Ausgleichsbedarf zwischen Sprecher und Hörer geben. Die Kontinuität der, im Deutschen und Englischen meist obligatorischen, Tempusmarkierung etwa produziert zwar Redundanz, markiert damit jedoch auch die weitere Gültigkeit des zuvor etablierten Temporalitätsrahmens. Fremdsprachenlerner umgehen diese Obligatorik gerne durch Rückgriff auf das Prinzip der anhaltenden Markierung, demgemäß eine sprachliche Markierung solange gilt, bis sie explizit aufgehoben ist. Keine Markierung ist also auch eine Markierung.

      Mit dem Tempus lässt sich Weinrich zufolge zudem zwischen erzählter und berichteter Welt unterscheiden (Weinrich 2005). Das Signal Es war einmal … als Einleitungsformel markiert eine bestimmte Textsorte, nämlich das Märchen, während die gleichen Ereignisse im Perfekt ausgedrückt, eher einem Protokoll oder Bericht zugestanden werden müssten. Das wichtigste Erzähltempus ist daher im Deutschen das Präteritum. Allerdings nicht zwingend, denn auch im Präsens und Perfekt lassen sich unter bestimmten Umständen Ereignisse erzählen. Darüber hinaus gibt es noch regionale Präferenzen, die sich bekanntlich unter anderem im Präteritumschwund im deutschen Sprachgebiet ausdrücken.

      Das bedeutet, dass lokal bedingt die oben genannten Referenzdimensionen nicht immer realisiert werden. So spielt in süddeutschen Varietäten die Unterscheidung der kontextuellen Relationen zwischen Präteritum und Perfekt offenbar keine so wichtige Rolle wie in nord- und westdeutschen Varietäten. Es ist ein interessantes Phänomen, dass mit dem Wegfall dieser Differenzierungen oder Differenzierungsmöglichkeiten eine Notwendigkeit für Ersatzformen geschaffen werden kann. Diese liegen etwa in den hessischen und unterfränkischen Varietäten des doppelten Perfekts und des doppelten Plusquamperfekts vor: Mir habbe Hunger g’kabt g’kabt (Wir haben Hunger gehabt gehabt) oder Beim Unnerwasserkriesch sinn mir 14 daach unner Wasser marschiert und ham als noch staubische fieß g’happt g’katte (Beim Unterwasserkrieg sind wir 14 Tage unter Wasser marschiert und haben immer noch staubige Füße gehabt gehabt).

      Es ist erstaunlich, wie viel Information in wenigen und kleinen Morphemen stecken kann, wie diese sich sogar überlagern oder auch außer Kraft setzen kann. Beachtenswert ist auch, wie viel Information und Korrektiv der Kontext bereithalten kann, um die verbleibenden Unklarheiten zu disambiguieren. Nicht jeder Lerner wird das ganze mögliche Inventar auch nutzen müssen, aber Temporalitätskonzepte unterscheiden sich zwischen den Sprachen und sind damit potentiellermaßen anfällig für konzeptuelle Transfers und Fehler.

      2.2.3 Räumlichkeit und Temporalität in Lernergrammatiken

      Sehen wir uns nun ein paar Grammatiken an, die sich mit Temporalität und Räumlichkeit beschäftigen.

      Abbildung 2.8:

      Auszug aus Hammer’s German Grammar zu Zeitausdrücken (Durrell & Hammer 2011: 204)

      Abbildung 2.9:

      Auszug aus Hammer’s German Grammar zu Zeitausdrücken (Durrell & Hammer 2011: 71)

      Die Hammer’s German Grammar versucht eigentlich, Sprache in aktuellen, auch umgangssprachlichen Gebrauchskontexten darzustellen. Sie wendet sich dabei an Sprecher des Englischen und geht daher oft explizit oder implizit kontrastiv vor. In diesem Ausschnitt behandelt sie die Verwendung von Zeitausdrücken aus einer implizit anglophonen Perspektive. Die Frage, ob ein Artikel verwendet wird oder nicht, könnte ansonsten auch relativ nachgeordnet sein. Für Lerner mit der L1 Englisch stellt sie aber ein großes Erwerbsproblem dar. Bei der Darstellung der Tempora nimmt die Grammatik – wie oft – direkten Bezug zum Englischen, in der Annahme, dass diese Kenntnis ein Erwerbsvorteil für Sprecher des Englischen sein könnte. Die spezifischen Unterschiede der Sprachsysteme werden ebenfalls in der Hoffnung herausgestellt, damit Transferfehler zu vermeiden. Insofern ist diese Grammatik eine Mischform unterschiedlicher Ansätze: kontrastiv, gebrauchsorientiert, mit authentischem Sprachmaterial arbeitend und auf die Bedürfnisse der Lerner ausgerichtet. Sie ist damit aber gleichzeitig auch eine Grammatik, die sich sehr an den strukturellen Formen der Sprache ausrichtet und die funktionalen Aspekte in den Hintergrund stellt. Auf kognitionslinguistische Prinzipien geht die Grammatik verständlicherweise nicht ein.

      Abbildung 2.10:

      Darstellung des Tempussystems in Hammer’s German Grammar (Durrell & Hammer 2011: 183)

      Abbildung 2.11:

      Darstellung des Tempussystems in Grammatik mit Sinn und Verstand (Rug & Tomaszewski 2013: 26)

      Abbildung 2.12:

      Auszug aus Minigrammatik Deutsch als Fremdsprache (Roche & Webber 2009: 20)

      Die beiden Grammatiken verstehen sich als Lernergrammatiken, sind also explizit an den vermeintlichen Progressionen der Lerner ausgerichtet. Diese sind jedoch nicht empirisch ermittelt worden, sondern beziehen sich auf Vereinfachungsstrategien und Plausibilitäten, die sich aus der Lehrerfahrung der Autoren ergeben. In gewisser Weise werden damit spätere Erkenntnisse der kognitiven Linguistik vorweggenommen. Beiden Grammatiken ist gemeinsam, dass sie die Komplexität des Tempussystems, d.h. des Formeninventars, dadurch reduzieren und transparent machen wollen, dass sie zu den kommunikativen Grundlagen des Systems, nämlich dem Ausdruck der Temporalität, zurückkehren. Dabei stellt sich heraus, dass Temporalität unterschiedlich ausgedrückt werden kann: mit gleichen Formen (z.B. Präsens), durch Adverbiale

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