Sittes Welt. Группа авторов
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Die Petrolchemie sollte dafür den Werktätigen als Vorgeschmack schon einmal die entsprechenden Konsumgüter liefern. Für die neue Schönheit des Alltags standen die aus dem schwarzen Öl produzierten Kleider und Nylonstrümpfe, das legendäre bügelfreie Hemd aus Kunstfaserprodukten, die Waren des täglichen Gebrauchs aus „Plaste und Elaste“75, das Plastespielzeug, Badezimmereinrichtungen, sogar Möbel.76 Die Petrolchemie gehörte neben dem Werkzeugmaschinenbau und der Optik zu den Bereichen der DDR-Ökonomie, von denen sich die Verantwortlichen vor allem Devisen aus dem Export in den Westen versprachen. Das sowjetische Erdöl aus der „Freundschaft“-Pipeline sollte mit den aus Erdöl generierten veredelten Produkten bezahlt werden. In der Petrolchemie sah man die neue Leitindustrie, sie stand für Fortschritt und Moderne. Mit der ersten großen petrolchemischen Anlage in der DDR, Leuna II, war der Glaube an die neue Chemieindustrie als zentralen Hebel zur Verwirklichung des Kommunismus verbunden, der in der Bildpropaganda von Willi Sittes Leuna 1969 (1968, S. 411)77 und dem Chemiearbeiter am Schaltpult (1968, S. 413) unmittelbar zum Ausdruck kommen sollte.
Walter Ulbricht (1893–1973) förderte jetzt statt Apparatschiks Technokraten und installierte im Januar 1963 Erich Apel (1917–1965)78 als Architekten der neuen dezentralisierten Wirtschaftsstruktur, in der die Betriebe auch Gewinne erzielen durften, und als Leiter der Staatlichen Plankommission. Apel konnte sich dank seiner sechsjährigen Tätigkeit als Raketenbauer in der Sowjetunion auf die unumgängliche Unterstützung Chruschtschows und der sowjetischen Führung stützen. Das im Juni 1963 vom Präsidium des Ministerrates eingeführte Neue Ökonomische System der Planung und Leitung (NÖSPL) sollte für größere Selbstständigkeit und Wettbewerbsfähigkeit sorgen nach dem Motto, so viel Plan wie möglich, so viel Markt, d. h. Gewinn wie notwendig. Mit der wieder geschaffenen Aussicht auf einen „Gewinn“ sollten die Betriebe zu Rationalisierungen, die Arbeiter zu höheren Leistungen motiviert werden. Die Verkürzung der Arbeitszeit, die Erhöhung des Grundurlaubs und die Einführung der Fünf-Tage-Woche mit dem langen Wochenende eröffneten neue Perspektiven für das durch den FDGB und die FDJ organisierte und gelenkte Freizeitverhalten der Werktätigen, wie es auf Sittes Polyptychon Unsere Jugend (1962, S. 401) zur Anschauung kommt.79 Um die Jugend für die wissenschaftlich-technische Revolution zu gewinnen, sollte zunächst einmal die Jugendarbeit aktiviert werden. An seinem Stellvertreter und Verantwortlichen für Jugendfragen, Erich Honecker (1912–1994), vorbei bildete Ulbricht daher eine nur ihm persönlich verantwortliche Jugendkommission beim Politbüro. Am 17. September 1963 verabschiedete das Politbüro das Kommuniqué Der Jugend Vertrauen und Verantwortung. „Die Zeitungen wurden lesbarer […] der Ton der Reden jugendfrisch, wie ein in dieser Zeit entstandenes Wort lautete, mancher alte Politiker zog sich wieder das Blauhemd an. Ulbricht posierte beim Volleyball am Netz: Jeder Mann an jedem Ort, einmal in der Woche Sport! […] Die FDJ stellte sich vor die Lyrik- und Singebewegung, […] die Poetenseminare folgten […]. Neue Fragen wurden gestellt […] auch mit Hilfe des neugeschaffenen Jugendsenders DT 64 […].“80
Auf dieser jugendbewegten Welle durchdringen sich Formen und Inhalte von Sittes Kunst dieser Zeit harmonisch, vergleichbar mit den Romanen von Christa Wolf (Der geteilte Himmel, 1963), Brigitte Reimann (Ankunft im Alltag, 1961, Franziska Linkerhand, 1974) und Erik Neutsch (Spur der Steine, 1964). Sitte gelang in den 1960er Jahren eine moderne sozialistische Kunst, die den akademischen Naturalismus sowjetischer Tradition der 1930er Jahre weit hinter sich gelassen hatte. Wie kein zweiter Künstler der DDR kam er dem nahe, was sich aufgeklärte Intellektuelle des Landes in der Nachfolge von Bertolt Brecht (1898–1956) erhofften, einer Kunst, die den Aufbau des Sozialismus ungeschönt und sachlich begleitete. Sein Stil erinnert nicht zufällig an den modernen Urbanismus der sowjetischen Künstlergruppe OST, der sogenannten Staffeleimaler (Stankovisten), allen voran Alexander Deineka (1899–1969)81 und Juri Pimenow (1903–1977), die während der Neuen Ökonomischen Politik (NÖP) in den 1920er Jahren, vergleichbar mit der Neuen Sachlichkeit in der Weimarer Republik, den Alltag und das Erscheinungsbild einer modernen Industriegesellschaft begleiteten.
Sitte gestaltet den sozialistischen Alltag auf dem Weg zum „Reich der Freiheit“ haptisch, sinnlich und sehr irdisch. Sein Paradies kennt keine Dogmatik und Esoterik, es ist ganz von dieser Welt. Seine Menschen bersten vor Lebenslust und Tatendrang. Sie bauen auf und sie lieben sich heftig und deftig. Sie genießen die Sauna nach der Arbeit. Sittes Panoramen menschlicher Leidenschaft frönen einem ungebremsten Vitalismus. Aber dieses Paradies ist ständig bedroht. Die Vertreibung aus dem Paradies, die Gefährdung der Utopie ist eine stets gegenwärtige Realität. Auf die Strandszene mit Sonnenfinsternis (1974/75, S. 467) fällt von oben ein orangefarbener Keil zwischen die sich genussvoll ergehenden Leiber und teilt das Gemälde durch den Blitz eines Deus ex machina.82 Der Mond hat sich vor die Leben spendende Sonne geschoben. Bedrohungen durch den Menschen, die Atombombe, den Krieg, den Kapitalismus und Imperialismus sind es, welche die lebensfrohe Idylle überschatten und in apokalyptischen Altären, wie Höllensturz in Vietnam (1966/67, S. 366 f), Son-My (1970)83, Jeder Mensch hat ein Recht auf Leben und Freiheit (1973)84 beschworen werden.
Parallel zu Sittes ab 1965 an Fahrt aufnehmender Karriere85 schwand jedoch sein Vertrauen auf den Erfolg des Staatsunternehmens DDR. Die Gründe waren politischer und ökonomischer Art: Der Widerstand der konservativen Parteifunktionäre in Politbüro und ZK gegen das von Ulbricht mit Hilfe pragmatischer Technokraten konzipierte Neue ökonomische System bekam Aufwind durch Chruschtschows Sturz Ende 1963 und die darauffolgende Ausrichtung der sowjetischen Politik auf den militärisch-industriellen Komplex im Donezbecken. Am 14. Oktober 1964 beschloss sein Nachfolger Leonid Breschnew (1906–1982) überraschend einen Politikwechsel, der statt Reformen einer militärischen Aufrüstung den Vorzug gab als Reaktion auf die expandierende militärische Intervention der USA in Vietnam. Damit veränderten sich schlagartig die bisherigen terms of trade für die DDR: Die Sowjetunion als Rohstofflieferantin verteuerte schrittweise bis in die 1980er Jahre die Erdölpreise, während die DDR ihre hochwertigen Fertigprodukte in Zukunft zu Dumpingpreisen zu liefern hatte. Für Sitte war das eine riesengroße Enttäuschung, wie er im Rückblick seiner Autobiografie erklärt: „Ein Großforschungszentrum war geplant, aus dem allerdings nie etwas geworden ist. Die Planungen gingen davon aus, die ganze Produktion von Braunkohle auf Öl umzustellen. Erdölleitungen wurden gelegt und entsprechende Umrüstungen vorgenommen. Mit modernsten Methoden und Mitteln sollte auf der Basis von Erdöl eine neue Produktionsphase eingeläutet werden. […] Die Einrichtungen wurden mit großem Kostenaufwand geschaffen, doch nie in Betrieb genommen, da die Sowjetunion ihre Zusagen zurücknahm und das Erdöl gegen Valuta in den Westen verkaufte. […] Für die DDR bedeutete das, mit hohen Kosten