Vernunft und Offenbarung. Micha Brumlik
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„Man kann die Geschichte und die Existenz dieses Volkes, diese Geschichte eines Geistes und diese Existenz durch den Geist, nur dann ganz begreifen, wenn man erkannt hat, wie hier die Kraft eines Genialen durchgebrochen und sich durchgesetzt hat, wie hier eine Revolution am Werke war und am Werke blieb. Ein genialer, ein revolutionärer Geist begann seinen Weg… Es war der Einbruch einer anderen Welt, der sich hier die Bahn schuf, in Menschen und durch Menschen, dieses Volk sie schuf…“76
Leo Baecks geisteswissenschaftliche Theorie des Judentums gipfelt so in einem den Hermeneutikern seit Schleiermacher teuren Prinzip: dem Entstehen des Neuen im Prozeß des Verstehens. Nun hat Baeck keine Theorie divinatorischen Verstehens vorgelegt, sondern den Gedanken des hermeneutischen Zirkels aus seiner Verbannung in Methodologie wieder in die Bereiche sachhaltiger Geschichtsbetrachtung zurückgeholt, mehr noch, am Beispiel des jüdischen Volkes das einzigartige Ineinanderübergehen von Text und individueller Lektüre, von Einzelnem und Gemeinschaft, von überhistorischer Wahrheit und erfülltem Kairos, von Tradition und Einbruch des Neuen demonstriert. Daß er dieses geisteswissenschaftliche Programm, das in gewisser Weise hinter Dilthey auf Hegel zurückgeht, in einem einzigen Fall entfaltet und diesen einzigen Fall zugleich als beispielhaft für die Analyse aller anderen geschichtlichen Existenz angesetzt hat, mag ironisch erscheinen. Die Philosophie des Idealismus, namentlich Hegels, nämlich sah die Juden zunächst als ein der Geschichte verlorengegangenes Volk an, Dilthey als Leser Hegels wiederum versuchte, die reale Dialektik der Geschichte methodologisch zu zähmen und so für sachhaltige historische Forschung zu retten. Leo Baeck schließlich gelang es, wenn auch unter stark normativen Vorzeichen, die Realdialektik ausgerechnet in der Geschichte des jüdischen Volkes zu retten. Daß der systematische Kern dieser Realdialektik in einer Theorie der sittlichen Persönlichkeit wurzelte, sollte man dem prominentesten Vertreter einer im besten Sinne bürgerlichen, klassischen Religion nicht ankreiden. Ob die von ihm angestrebte Synthese eines Kantianismus der Moral mit einer hermeneutischen Lebensphilosophie – selbst genial an der Existenz des jüdischen Volkes entfaltet – in Theorie und Sache aufgeht, wird sich nur durch eine erneute Analyse der von Baeck bemühten und bewunderswert sicher verarbeiteten Quellen erweisen lassen.
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