Vernunft und Offenbarung. Micha Brumlik
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Das Verhältnis von Gott und Substanz, von Absolutem und Kontingentem, von zeitlosem Sein und historischer Existenz konnte im Christentum deshalb besser gefaßt, und das heißt, als vermittelt angesehen werden, weil das seit Nizäa geltende Dogma von Jesus, der als Christus wahrer Gott und Mensch ist, alle geistigen Potentiale einer Vermittlungstheologie enthielt. So stellte sich im philosophischen Diskurs dieser Zeit Gottes Gesetzgebung am Sinai als unvermittelte Herrschaft des Moralprinzips dar, während die Menschwerdung Gottes in Jesus gerade in seinem Tod am Kreuz die Botschaft einer absoluten Vermittlung göttlicher Liebe und menschlicher Not ist. Daher sieht die spekulative christliche Religionsphilosphie das Wesen der Offenbarung auch nicht – wie die Offenbarung der Thora – als das Anbieten einer Weisung, derart, daß die Offenbarung die Form und die Weisung ihr Inhalt ist, an, sondern als den historischen Prozeß selbst, der in Jesu Geburt und Tod als Fleischwerdung und Selbstentäußerung Gottes kulminiert. Wird für das Judentum in der Offenbarung die Thora gegeben, so ist im Christentum Jesus selbst die Offenbarung, weswegen der Bezug auf seine eigenen Lehren das Wesen des Christentums verfehlt hat. In der Philosophie der Offenbarung heißt es bei Schelling, „handelt es sich allein darum, die Person Christi zu erklären. Er ist nicht Lehrer, nicht Stifter, sondern Inhalt des Christentums.“49 Schelling bemüht in seiner Philosophie der Offenbarung von 1841/42 eine komplexe, auch von kabbalistischen Ideen zehrende theosophische Überlegung der Ausdifferenzierung und Wiederversöhnung eines göttlichen Seins mit sich selbst. Damit Welt und Schöpfung werde, mußte sich Gott von sich selbst abheben und einen Teil seiner Selbst als selbständiges außergöttliches Sein freigeben. Da Schelling im Außergöttlichen auch das Widergöttliche sieht und damit das Problem der menschlichen Sündhaftigkeit anspricht, das bekannte christlich-paulinische Dogma von der Erbsünde und der notwendigen Selbstverfehlung des Menschen, kann er in den christlichen Dogmen nicht nur eine nicht-dualistische Antwort auf die Frage von dem Verhältnis von Gott und Substanz, sondern auch eine nicht-dualistische Antwort auf die Frage nach dem Verhältnis von menschlicher Freiheit und materieller menschlicher Existenz sehen. In und mit Christus sind all diese Spannungen – so der Schelling von 1841 – gelöst, das heißt vermittelt:
„Durch diese Vermittlung und Versöhnung sind nun alle früheren Momente und Verhältnisse gesteigert, sind faßlicher und begreiflicher gleichsam geworden. Weil Christus nur durch den in ihm seienden Vater Christus ist, so wird im Sohne das Göttliche offenbar; aber der, welcher zum Sohne erklärt wird, ist nicht der im Vater vor der Schöpfung Seiende. Jetzt ist eine viel höhere, faßlichere Einheit gesetzt. Derselbe, der seinen Willen in das konträre Sein legt, als der Unversöhnliche, legt seinen Willen in den Sohn und versöhnt das Sein im Sohne sich selbst, und in dieser Vermittlung ist die höchste Einheit mit sich selbst hergestellt. Hiermit glaube ich den Grundgedanken der Offenbarung ausgesprochen zu haben.“50
Steinheim hat in keiner seiner Schriften das spekulative Niveau Fichtes, Schellings und Hegels auch nur annähernd erreicht, geschweige denn, daß er im Rahmen einer Kritik ihren systematischen Überlegungen gerecht werden konnte. Er hat aber sehr genau gesehen, daß all diese Überlegungen zu judentumsfeindlichen Überlegungen führen, was sich wiederum an Schellings Philosophie der Offenbarung zeigen läßt. Dort sagt Schelling im XXVII. Kapitel, das sich mit der Offenbarung im Judentum auseinandersetzt, daß die Offenbarung an Abraham an ein falsches göttliches Prinzip geknüpft gewesen sei, daß kein Volk solcher Knechtschaft in seinem Tun und Lassen unterworfen gewesen sei wie das jüdische und daß das Typische des Mosaismus das Heidnische sei.51 Diese Überlegungen gipfeln in der Feststellung:
„Denn so schlaff zeigte sich dies Volk, daß es nicht einmal sein Land erobern konnte, obwohl mit göttlichem Befehl. Es hatte durch seinen Gottesdienst keinen religiösen oder moralischen Einfluß. Scheint es das begünstigste Volk zu sein, so hat es diesen Vorzug gebüßt. Es war immer potentielles Christentum oder gehemmtes Heidentum. Im Judentum war das Kosmische Hülle des Zukünftigen, darum auch selbst geheiligt […] Die Juden waren aber nur Etwas als die Träger der Zukunft, und das Mittel ward zwecklos, wie die Hülle vom Kern hinweggeweht wird […] Aber der Tag wird erscheinen, da sie in die göttliche Ökonomie werden aufgenommen werden. Inzwischen sollte man ihnen die nothwendigen menschlichen Rechte zugestehen.“52
IV.
Der reaktionäre späte Schelling verbindet so spekulativen Antisemitismus auf höchstem Niveau mit einem eindeutigen Eintreten für die Menschenrechte der Juden. Der Demokrat, Positivist, Aufklärer und Kantianer Steinheim wollte wider diese Formen des Antijudaismus den klaren Rückgang auf Kant und war damit Nachfolger und Vorläufer all jener liberalen deutschen Juden, die von Marcus Herz bis zu Hermann Cohen bei Kant das Wesen des Judentums als einer vernünftigen Religion freier Sittlichkeit angelegt sahen.
Die letzte Phase deutsch-jüdischer Philosophie – das Werk Franz Rosenzweigs – ist dann, wie die neuere Forschung zeigen konnte,53 von Schelling inspiriert und interessierte sich für Kant und den orthodoxen Offenbarungspositivismus zunehmend weniger. Das führt uns endlich zu der Frage, ob Steinheims Offenbarungspositivismus, auf den sich zum Beispiel Hans-Joachim Schoeps und Jakob Petuchowski unter den neueren jüdischen Denkern bezogen, dem Wesen des Judentums überhaupt gerecht werden kann. Entgegen dem Titel von Steinheims Werk Die Offenbarung nach dem Lehrbegriff der Synagoge bezieht sich Steinheim gut protestantisch vor allem auf die Bibel und bemüht – soweit ich sehe – kaum oder nur sehr wenig das talmudische Schrifttum. Ihm mochte daher auch jene Passage entgehen, die ihm als naturwissenschaftlichem Positivisten ohnehin fremd vorkommen mußte, jene Passage im Traktat Bawa Mezia,54 in der erzählt wird, daß die Rabbiner sich bei ihrer Interpretation der Thora auch durch eine göttliche nicht beeindrucken ließen, da sie aus dem Deuteronomium wußten, daß die Weisung nicht im Himmel, sondern nah bei den Menschen ist. Das deuteronomistische und rabbinische Judentum hat im Prinzip – und das unterscheidet es jedenfalls vom Protestantismus – das Problem der Vermittlung von Gottes Wille und geschichtlicher Welt nicht auf die Offenbarung eines Messias als des menschgewordenen und als Mensch gestorbenen Gottes geschoben, sondern dort angesiedelt, wo die Vermittlung tatsächlich geschieht: in der Mitte jener, die die Lehre im geschichtlichen Prozeß empfangen, aufnehmen, um- und fortbilden, also in dem Prozeß der Tradition einer ebenso verbindlichen wie dem geschichtlichen Prozeß gegenüber offenen Interpretation.
Nun ist mit dem Verweis auf die Inkompatibilität von rabbinischem Judentum und Offenbarungspositivismus noch nichts über das Recht religiöser Spekulation gesagt - ob ein Jude nach Auschwitz ohne sie auskommt, darf indessen bezweifelt werden.
Leo Baecks Theorie des Judentums als Vollendung der geisteswissenschaftlichen Hermeneutik
I.
In den Arbeiten Leo Baecks über das Judentum hat die Theorie Wilhelm Diltheys, bei dem Baeck mit einer Arbeit über Spinoza promoviert hatte, ihren idealen Anwendungsfall gefunden. Dilthey hatte um die Jahrhundertwende den sich inzwischen konsolidierenden Geisteswissenschaften nicht nur ein methodologisches Gerüst, sondern damit zugleich eine Theorie ihres Selbstverständnisses geboten. Darin wollte er vermittels einer empirischen Transformation von Hegels Theorie des Geistes die Ausprägungen kultureller Gehalte in ganzen Lebensvollzügen sowohl in ihrem inneren Zusammenhang als auch insbesondere in ihren Auswirkungen auf die Individuen, die einer solchen Kultur angehörten, verdeutlichen. Wenn über Baecks Beziehung zu Dilthey gehandelt wird, wird meist Diltheys Theorie der Polaritäten, das heißt einander entgegengesetzter geistiger Strömungen, in den Mittelpunkt gestellt sowie dessen Methode eines nachvollziehenden Verstehens der Sinngehalte einer Kultur beziehungsweise der ihre Individuen motivierenden geistigen Kräfte. In Diltheys Argumentationsfigur des hermeneutischen Zirkels – gemäß dem sich Selbstverständnis und Handeln der Individuen aus dem Ganzen der Kultur, in der sie leben, erschließen lassen, während sich umgekehrt der Sinngehalt einer ganzen Kultur nur aus den Lebensvollzügen ihrer Individuen erschließen läßt –