Vernunft und Offenbarung. Micha Brumlik
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II.
Seit die französische Frühaufklärung die Idee einer geoffenbarten Wahrheit wegen ihrer öffentlich nicht systematischen Nachvollziehbarkeit kritisierte, stand das an der Aufklärung orientierte oder mit der Aufklärung konfrontierte Denken vor der Aufgabe, diesem Begriff zunächst eine scharfe Bedeutung zu geben. So hat Johann Gottlieb Fichte in seinem im Jahre 1792 erschienenen Versuch einer Kritik aller Offenbarung bereits zwischen natürlicher und geoffenbarter Religion unterschieden und den Unterschied beider daran bemessen, ob das Prinzip des Übernatürlichen sich als innerhalb oder außerhalb des menschlichen Bewußtseins denken lassen kann. Fichte sieht richtig, daß offenbarte Wahrheiten nicht als empirische Erkenntnisse a posteriori angesehen werden können, sondern von einer vorgängigen, apriorischen Konstruktion oder Selbsterforschung des menschlichen Bewußtseins, besonders in moralischer Hinsicht, abhängig sind. Die apriorische Annahme, daß die Quelle moralischer Institutionen nicht innerhalb, sondern außerhalb des menschlichen Bewußtseins liegt, führt schließlich zum Begriff der geoffenbarten Religion: „Der deducierte Begriff ist wirklich der Begriff der Offenbarung, d.i. der Begriff von einer durch die Causalität Gottes in der Sinnenwelt bewirkten Erscheinung, wodurch er sich als moralischen Gesetzgeber ankündigt.“40 Vor solchen oder ähnlichen Grundannahmen kantischer Art stellt sich dann die Frage, auf welche Weise ein als übersinnlich gedachter Gott auf das Sinnenwesen Mensch einwirken kann – zumal dann, wenn Gott ganz im kantischen Sinne als eine vom menschlichen Bewußtsein hervorgebrachte regulative Idee begriffen wird. Weiter stellt sich die Frage, anhand welcher Kriterien faktisch oder historisch übermittelte Mitteilungen als göttliche Offenbarung identifiziert werden können. Gibt es eindeutige formale oder materiale Kriterien, die eine Mitteilung als offenbarte Wahrheiten qualifizieren? Dabei ist die Frage nach den materialen Kriterien von Offenbarung im Rahmen eines kantischen Denkens leicht zu beantworten: der Inhalt der Offenbarung kann kein anderer sein als der Inhalt des Sittengesetzes beziehungsweise jener regulativen Ideen, die nach Kant der Mensch als moralisches Wesen hegen muß: Gott, Freiheit und Unsterblichkeit. In formaler Hinsicht impliziert der Endzweck jeder Offenbarung, nämlich reine Moralität, zunächst ein Ausschlußkriterium, nämlich die absolute Freiheit der Durchsetzung ihrer Inhalte von allen externen Motiven:
„Der Gehorsam gegen die moralischen Befehle Gottes kann sich nur auf Verehrung, und Achtung für seine Heiligkeit gründen, weil er nur in diesem Falle rein moralisch ist. Jede Offenbarung also, die uns durch andere Motive, z.B. durch angedrohte Sprachen oder versprochene Belohnungen, zum Gehorsam bewegen will, kann nicht von Gott sein, denn dergleichen Motive widersprechen der reinen Moralität.“41
Man sieht sofort, daß unter solchen philosophischen Auspizien die Chancen für eine gerechte Würdigung des spätestens seit Luther, frühestens seit Johannes und Paulus als Gesetzesreligion verketzerten Judentums schlecht genug waren und dieses selbst zum Inbegriff dessen werden mußte, was eine geoffenbarte Religion nicht sein konnte: nämlich ein Gesetzesglaube, der dem auserwählten Volk unter Androhung härtester Sanktionen auferlegt wurde. Das bedeutet aber im Umkehrschluß nichts anderes, als daß jener Gott, der sich vermeintlich als autoritärer Gesetzgeber am Horeb gezeigt hat, nicht der Gott sein konnte, den ein vernünftiger und moralischer Offenbarungsbegriff forderte. Vor dem Richterstuhl philosophischer Offenbarungskritik mußte das Judentum als historisch faktischer Ausdruck von Unfreiheit gelten. Vor dem Hintergrund solcher und ähnlicher Argumente übernahm Steinheim die Aufgabe, sowohl das Judentum als geoffenbarte Religion der Freiheit zu retten, als auch die heftig diskutierte Frage der Kriterien einer Offenbarung zu lösen. Steinheim bezeichnet dieses Kriterium als „Schibboleth“ und kommt im ersten, 1835 erschienenen Band seiner Offenbarung nach dem Lehrbegriff der Synagoge zu dem Schluß, daß es die Ideen der Einheit Gottes, der Schöpfung der Welt aus dem Nichts sowie der menschlichen Handlungsfreiheit sind, die in formaler und materialer Hinsicht das Kriterium der geoffenbarten Wahrheit ausmachen. Gegen den Trinitarismus des Christentums, gegen den philosophischen Materialismus des religiösen Denkens von Philo bis Spinoza und wider die paulinisch-lutherische Lehre von der Unfreiheit der Menschen in der Erbsünde wäre damit die Richtigkeit des Tenach und des rabbinischen Judentums erwiesen, das im Buche Genesis Schöpfung und Freiheit und in den prophetischen Büchern die Einheit, Einzigkeit und Allgegenwart Gottes behauptet.
Anders als Fichte, der seinen Offenbarungsbegriff apriorisch konstruiert und am Kant der Kritik der praktischen Vernunft ansetzt, kommt Steinheim zu seinen Folgerungen durch ein unmittelbares Anschließen an Kants Kritik der reinen Vernunft.
Im berühmten Antinomienkapitel der Kritik der reinen Vernunft hatte Kant demonstriert, daß ohne Erfahrung die herkömmlichen metaphysischen Fragen, ob die Welt einen Anfang in der Zeit habe und dem Raum nach in Grenzen eingeschlossen sei oder nicht; ob alle Substanz aus einfachen Teilen bestehe oder nicht; ob die Welt nur durch Naturkausalität oder auch durch Freiheit zu erklären sei oder nicht und endlich: ob die Welt als Teil oder Ursache ihrer selbst ein notwendiges