Vernunft und Offenbarung. Micha Brumlik
Чтение книги онлайн.
Читать онлайн книгу Vernunft und Offenbarung - Micha Brumlik страница 4
III.Judentum, Christentum und Kantianismus
Cohens in Abwehr von Treitschkes Judenfeindschaft konzipierte Theorie des jüdischen Universalismus nimmt das verworfene und abgelehnte Projekt einer Geschichtsphilosophie wieder auf. Wie – so läßt sich Hegels Frage reformulieren – war es möglich, daß die Vernunft in der Geschichte wirklich geworden war? Wie müssen wir handeln? – so fragten gegen Hegel liberale und sozial verantwortliche Denker wie Cohens philosophischer Förderer, der akademische Materialist F. A. Lange, die nicht glauben mochten, daß der preußische Staat die Verkörperung der Vernunft war. Was so im Denken Hegels als rückwärts gewandte Reflexion erschien, wies sich den Neukantianern als politische Aufgabe. Die Rückkehr zu Kant im letzten Viertel des neunzehnten Jahrhunderts zog zugleich eine Neubelebung der Lehre vom gerechten, richtigen Handeln, der Ethik, und damit eine Abkehr vom realpolitischen Zynismus des Bismarckreiches nach sich. Diese Haltung – einschließlich ihrer Berufung auf Kant – zu artikulieren, schien Philosophen jüdischer Herkunft besonders nahezuliegen. Es ist mehr als ein Zufall, daß sich Cohen hier in einer Reihe mit Kants jüdischen Schülern seit Marcus Herz sieht, Schülern und Lesern, die eine tiefe innere Wahlverwandtschaft zwischen Kants praktischer Philosophie und der Orthopraxie des Judentums als Religion erkannten. Hermann Cohen brachte diese ebenso innige wie historisch unvermittelte Wahlverwandtschaft auf den Begriff:
„Diese idealistische Bedeutung der Sittlichkeit, kurz, was wir Deutsche als das unantastbare Heiligtum Kantischer Lehre ehren, worin alle Auffassungen sich einigen, was wir als den höchsten Schatz nationaler Weisheit allen modernen Völkern entgegen als Deutschheit hochhalten, das erscheint aus der Tiefe, aus der Gottinnigkeit, aus der Glut des sittlichen Enthusiamus der Propheten historisch unvermittelt. Die Kantische Ethik trifft zwar inhaltlich in ihrem Imperativ völlig zusammen mit dem Rigorismus der israelitischen Sittenlehre. Die Haggada, derjenige Teil des Talmuds, welcher die Sittenlehre enthält […]“6
Hermann Cohen, der sich nie taufen ließ, sah sich gleichwohl genötigt, auf christliche Motive zurückzugreifen, um die Wahlverwandtschaft zwischen Kantianismus und Judentum zu entfalten. Die Notwendigkeit dieser Argumentationsweise drängte sich Cohen durch eine Fragestellung auf, die ihrerseits von der christlich geprägten Philosophie des deutschen Idealismus vorgegeben war. Wie – so fragte sich der Kantianer Cohen – ist es möglich, daß ein gleichsam göttliches, allgemeines Sittengesetz der Vernunft endlicher, wenn auch moralisch freier Wesen entspringt, ohne daß dabei den endlichen Menschen selbst Göttlichkeit zuzusprechen ist? Die Antwort lautete in der von Hegel inspirierten, im ersten Drittel des neunzehnten Jahrhunderts in Deutschland als gültig angesehenen Philosophie: durch Vermittlung! Diesem Programm hing auch noch ein vermeintlich hegelkritischer Neukantianer wie Hermann Cohen an.
So bestand die Antwort auf Treitschkes Schmähschrift in dem Hinweis, daß jedenfalls die modernen, die kantianischen Israeliten mit dem modernen Christentum die entscheidenden Grundannahmen teilen. Der Preis dieser Verteidigung bestand freilich nicht nur in einer relativen Preisgabe der Eigenständigkeit des Judentums in theoretischer Hinsicht, sondern führte auch dazu, der Idee der christlichen Religion einen systematischen Vorsprung vor der Geltung der prophetischen Ehtik zuzuschreiben:
„Ein Punkt nur ist in dieser Vertiefung der Gottesidee nicht zum vollen Ausdruck gekommen, dessen dogmatische Ausgestaltung den christlichen Monotheismus von dem israelitischen unterscheidet. Es ist dies der fundamentale Gedanke, welcher die Verbindung der modernen Völker mit dem griechischen Geiste zur Erzeugung einer neuen Kultur ermöglicht hat: Die Idee des Verhältnisses von Mensch und Gott wird in der Menschwerdung Gottes verinnerlicht, und vollzieht in der dogmatischen Form der Humanisierung Gottes die kulturgeschichtliche Mission der Humanisierung der Religion.“7
Was zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts der jüdische Reformer, Kantianer und Mendelsohnschüler David Friedländer im Berlin der protestantischen Seite in seinen 1799 publizierten Hausväterbriefen skizziert hatte und was schon damals auf protestantischer Seite auf den deutlichen Widerspruch liberaler Theologen wie des Propstes Teller und Friedrich Daniel Schleiermachers gestoßen war,8 führte Hermann Cohen mehr als ein halbes Jahrhundert später gegenüber einem illiberalen und antisemitischen Historiker wie Heinrich von Treitschke aus: ein Christentum ohne Christus.
Die Akzeptanz und Überzeugungskraft dieser Gedankenfigur sollte nach Cohens Willen den Juden ihren Platz in einer christlichdeutschen Gesellschaft sichern: „Ich hoffe gezeigt zu haben“, beschließt Cohen diesen Passus, „daß der Religionsgehalt des israelitischen Monotheismus mit dem in geschichtlichem Geiste gedachten Christentum vereinbar und zur Volksgemeinschaft zureichend sei.“9
Freilich kann sich die Aufgabe einer Vermittlung von Judentum und Deutschtum nicht im Gedanken eines Christentums ohne Christus erschöpfen – als historisch konkrete, vermittelnde und vermittelte Tat hat sie sich der Konkretion anzunehmen: dem damaligen deutschen Staat.
IV.Staat und Rasse
Die Bevölkerung dieses Staates, des Bismarckreichs, schien freilich vor allem aus Protestanten und sonstigen blutmäßigen Deutschen zu bestehen, aus mehreren Nationalitäten, ja sogar mehreren Rassen. Daher sieht sich Cohen in seiner Auseinandersetzung mit Treitschke über seine theologisch-systematischen Argumente hinaus gezwungen, auf die Rassentheorie einzugehen beziehungsweise die Bedeutung von Rassen für die Bildung einer Nation zu untersuchen. Dabei distanziert sich Cohen scharf von dem kulturalistisch-liberalen, allem Blutsdenken abgeneigten, ebenfalls jüdischen Begründer der „Völkerpsychologie“, Moritz Lazarus, der den Rassegedanken zur Erklärung des Wesens von Völkern für überflüssig hielt. Cohens Äußerungen zur Rassenfrage lassen an Deutlichkeit wenig zu wünschen übrig:
„Mit gesundem Menschengefühl wird man die Frage, ob in einem Volke Rasseneinheit wünschenswert und in gewissen Minimalgrenzen erforderlich sei, unbedenklich bejahen […]. Wir müssen erkennen, daß der Rasseninstikt mitnichten simple Barbarei ist; sondern ein natürliches, national berechtigtes Verlangen. Barbarei wird Nationalgefühl, wenn es zu politischer und nationaler Ausschließung solcher Mitbürger degeneriert, die kein anderes Vaterland haben noch wollen.“10
Cohen meinte, Treitschke zugeben zu müssen, daß alle Juden das deutsche, germanische Aussehen subjektiv wünschten, und baute daher auf eine soziale Annäherung, ein Konnubium, das endlich zur Angleichung der Rassenunterschiede führen sollte. Für ihn bestand kein Zweifel daran, daß „wir Juden anzuerkennen haben, daß das Ideal nationaler Assimilation, als solches, von Geschlecht zu Geschlecht bewußter angestrebt werden soll“.11
Da Cohen aus prinzipiellen, der Authentizität des Gewissens verpflichteten Gründen gegen Konversionen zum Christentum eintrat, mußte er schließlich eine Lebensform befürworten, die sich aus damaliger Perspektive tatsächlich als deutsch-jüdische Symbiose bezeichnen ließe, nämlich für interkonfessionelle Ehen, in denen die Partner aus aufgeklärten Kulturprotestanten oder israelitischen, ethischen Monotheisten bestehen. Dabei war es nicht einmal nötig, Spekulationen oder Zukunftsprojektionen zu betreiben. Eine schlichte Bestandsaufnahme des real existierenden Judentums in Deutschland seit der französischen Revolution reichte dazu in jeder Hinsicht aus. Und zwar sowohl für die Form des Gottesdienstes als auch bezüglich der Lehrinhalte des deutschen Judentums:
„Unsere israelitische Religion, wie sie uns heute lebendig erfüllt, ist tatsächlich eine kulturgeschichtliche Verbindung mit dem Protestantismus bereits eingegangen; nicht nur, daß wir jene Tradition der Kirche, so wie die des Talmud mehr oder weniger bestimmt und unverblümt als unverbindlich