Vernunft und Offenbarung. Micha Brumlik
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Der jüdische Universalismus war in der Moderne stets all jenen ein Dorn im Auge, die die konkreten Selbstbehauptungsinteressen partikularer Gemeinwesen zum Zentrum ihres Denkens machten. Dabei konnten sie oft genug von Traditionen antijudaistischen Denkens in christlicher Tradition zehren. Der den Nationalsozialisten schließlich hörige, auf seine Weise genialische deutsche Verfassungsrechtler Carl Schmitt hat sich dieser Argumentationsweisen ausgiebig bedient. Im Negativ seines Antijudaismus wird deutlich, wie das Judentum in der Moderne wahrgenommen werden konnte. Aber auch einem aus existentieller und politischer Verantwortung für die Juden eintretenden Autor wie Jean-Paul Sartre gelingt es nicht immer – nicht einmal dort, wo er sich mit dem Antisemitismus auseinandersetzt – jenen Klischees zu entgehen, die er doch kritisieren möchte.
Dabei war Schmitts Ahnung von einer Wesensverwandtschaft von Judentum und Moderne so abseitig nicht. Im Werk so heterogener Autoren wie Ernst Bloch, Franz Kafka, Walter Benjamin und Emmanuel Levinas werden Begriffe, die die Signatur der Moderne ausmachen – „das Neue“, „das Späte“, „zu Späte“, „das Jähe“ und „das Unmittelbare“ – ausdrücklich oder unausdrücklich an Gehalte der jüdischen Tradition rückgebunden. Wo Bloch seiner Ontologie des „Noch-Nicht“ und der Hoffnung einen nun in der Tat heterodoxen Begriff eines sich selbst forttreibenden Absoluten zumißt, bezieht sich Franz Kafka auf die biblische Idee des Messias, um sie gegen jeden Optimismus zu kehren und die Heils- und Hoffnungslosigkeit aller geschichtlichen Erfahrung zu demonstrieren. Die gleiche Idee wird bei Walter Benjamin zum Unterpfand einer plötzlichen Rettung, eines Auftrages an die je Gegenwärtigen, dem geschichtlichen Verlauf noch einen rettenden Abschluß zu verleihen.
Daß das Unterpfand der Rettung sich als eine Weisung zeigt, die als Spur Gottes in jedem menschlichen Antlitz unmittelbar sichtbar wird, ist die Überzeugung von Emmanuel Levinas, der von Bibel und Talmud her die ontologische Grundstruktur allen abendländischen Philosophierens und dessen Moralvergessenheit kritisiert.
Nach Levinas Überzeugung war es diese Moralvergessenheit, die das abendländische Denken zum Wegbereiter der Vernichtungslager werden ließ. In striktem Gegensatz zur theoretischen Einstellung der abendländischen Philosophie seit der griechischen Antike setzt Levinas daher auf eine unvordenkliche Praxis, die die Menschen je schon in wechselseitige Verantwortungs- und Verpflichtungsverhältnisse gesetzt hat, in Verhältnisse, die sie aufgrund ihrer theoretischen Einstellungen verdrängt haben. Indem Levinas jedoch unbarmherzig auf den durchaus zwanghaften Charakter dieser Verantwortungsverhältnisse hinweist, bleibt er der Moderne, die bewußt an der Moral leidet, treu. Kann die gebietende Stimme vom Sinai, die die Verhärtungen des menschlichen Herzens aufbrechen wollte, in diesem Sinne als Ursprung eines die Moderne überwindenden oder gar zur Vollendung bringenden Denkens verstanden werden?
Patriotismus und ethischer Unsterblichkeitsglaube: Hermann Cohen
I.Deutscher Professor und jüdischer Denker
„Wir leben in dem Hochgefühl des deutschen Patriotismus, daß die Einheit, die zwischen Deutschtum und Judentum die ganze bisherige Geschichte des Judentums sich angebahnt hat, nunmehr endlich als eine kulturgeschichtliche Wahrheit in der deutschen Politik und im deutschen Volksleben, auch im deutschen Volksgefühl aufleuchten werde. Wenn mit diesem Kriege die letzten Schatten verscheucht werden, welche die innere deutsche Einheit verdunkeln, dann wird über alle Schranken der Religionen und der Völker hinweg der weltbürgerliche Geist der deutschen Humanität auf der Grundlage der deutschen Nationalität, der deutschen Eigenart in seiner Wissenschaft, seiner Ethik und seiner Religion die anerkannte Wahrheit der Weltgeschichte werden.“1
Als Hermann Cohen diese Zeilen im Jahr 1915 schrieb, war er bereits siebenundsiebzig Jahre alt, gerade seit drei Jahren als emeritierter Professor aus den Diensten der Universität Marburg ausgeschieden und lehrte an der Berliner Hochschule für die Wissenschaft des Judentums.
Der Begründer der Marburger Schule des Neukantianismus hatte ursprünglich in Breslau, am Seminar Zacharias Fränkels ein rabbinisches Studium aufgenommen, sich dann aber in Berlin dem Studium der Philosophie zugewandt. Nach einer Promotion in Halle und der Habilitation in Marburg lehrte er dort rund dreißig Jahre, bis zum Jahre 1912. Hermann Cohen dürfte der einzige nichtgetaufte Jude gewesen sein, dem es gelang, während des wilhelminischen Reiches eine ordentliche Professur zu erhalten. In einer Reihe von Arbeiten zu Kant und Platon, die in den systematischen Hauptwerken Logik der reinen Erkenntnis (1902), Die Ethik des reinen Willens (1904) sowie der Ästhetik des reinen Gefühls (1912) gipfelten, begründete er das mit, was später als Neukantianismus bezeichnet wurde. Dabei orientierte sich Cohen, nicht anders als Immanuel Kant selbst, an den konstruktiven Prinzipien der Mathematik.
II.Jüdisches Bekenntnis in Reaktion auf Kulturantisemitismus
Gleichwohl ging es Cohen stets auch um Fragen der Ethik. Als einziger bekennender jüdischer Professor im Deutschen Reich mußte sich auch ein Wissenschaftstheoretiker wie er von den antisemitischen Ausfällen des bedeutenden nationalliberalen Historikers Heinrich von Treitschke getroffen fühlen, der im Jahr 1879 – mitten in der Gründerkrise des Bismarckreiches – den christlich sozialen Antisemitismus des Berliner Hofpredigers Adolf Stoecker mit dem schriftlich fixierten Ruf „Die Juden sind unser Unglück“ unterstützte.2
Treitschkes rassenantisemitisch unterfütterter Angriff galt allen Beteuerungen zum Trotz indessen nicht nur den aus Mittel- und Osteuropa zuwandernden Juden, sondern eben auch jenen wenigen deutschen Juden, denen es mühsam gelungen war, öffentliche Anerkennung und Reputation zu finden. „Unter den führenden Männern der Kunst und Wissenschaft“ – so hetzte Treitschke – „ist die Zahl der Juden nicht sehr groß, umso stärker die betriebsame Schaar der semitischen Talente dritten Ranges.“3
Hermann Cohen, der sich aufgrund seines einzigartigen Status und seiner fraglosen Anerkennung in der deutschsprachigen Wissenschaftlergemeinschaft jedenfalls nicht persönlich geschmäht fühlen mußte, kam Treitschke in einer persönlichen Entgegnung in einer heute unverständlichen Konzilianz entgegen: „Nicht als Sprecher einer jüdischen Partei, sondern als Vertreter der Philosophie an einer deutschen Hochschule und Bekenner des israelitischen Monotheismus“4 stellte Cohen in seinem Bekenntnis zur Judenfrage zunächst fest, daß Rassenfragen ohnehin nicht argumentativ lösbar seien und es daher nur darum gehen könne, Treitschkes Meinung, das Judentum sei lediglich die Nationalreligion eines fremden Stammes, zu widerlegen. Auf dieser Basis nämlich, so Cohen, sei „dem hartnäckigsten, zudringlichsten Verlangen nach Verständigung der Boden entzogen“.5
Indem Cohen im folgenden dennoch, seinem mutigen Bekenntnis zum Trotz, argumentativ auf Treitschke einging, kam er dem Kontrahenten weiter entgegen, als es der Sache nach geboten war. Indem Cohen als naturwissenschaftlich interessierter Philosoph die Triftigkeit der Rassentheorie nicht gänzlich in Abrede stellen wollte, blieb ihm nur noch der Ausweg, den wahren Universalismus des Judentums herauszustellen. Insofern kann Cohens Antwort auf Treitschke aus dem Jahr 1880 zugleich als Urfassung der posthum 1919