Vernunft und Offenbarung. Micha Brumlik
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VI.Deutschland im Krieg
Spätestens hier wird deutlich, in welchem Ausmaß der deutsche Jude und Kantianer Hermann Cohen unbemerkt und unreflektiert einige intellektuelle Voraussetzungen der Bismarckschen Staatsgründung mitträgt. Ohne einen Gedanken daran, daß es in diesem Reich auch Katholiken gab, ohne Erwähnung des einem ethischen Sozialisten eigentlich geläufigen Umstandes, daß es auch einen atheistischen Universalismus gibt,19 geriet ihm die Beziehung zum deutschen Protestantismus zum Kern seines politischen Denkens und seiner Interpretation des Judentums. Daß Hermann Cohen sich, dem Zionismus ebenso abgeneigt wie dem Chauvinismus, schließlich auf den bizarren Pfad eines universalistisch-messianischen Bekenntnisses für Deutschlands Weg in den Ersten Weltkrieg begab und er damit zu einem der hervorragendsten Vertreter der den Ideen von 1789 entgegengesetzten Ideen von 191420 wurde, wird auch an dem zu Beginn des Ersten Weltkrieges publizierten Schreiben an die Juden Amerikas deutlich. In diesem Du sollst nicht einhergehen als ein Verleumder. Ein Appell an die Juden Amerikas betitelten Schreiben heißt es unverblümt: „Nicht jeder Jude weiß es, aber jeder Jude soll es wissen: Die innere religiöse Entwicklung unserer Religionsverfassung verdanken wir nur Deutschland.“21 Diese Einsichten – so meint Cohen – sollten jeden Juden auf der Welt an die Seite des kriegführenden Deutschland treiben, das mit seinem Waffengang sowohl die praktischen Interessen der Juden wahrnähme als auch einen welthistorisch-messianischen Auftrag erfülle:
„Liebe Brüder in Amerika! Ihr werdet mich jetzt verstehen, wenn ich Euch sage: Jeder Jude des Abendlandes hat neben seinem politischen Vaterland als das Mutterland seiner modernen Religiösität, wie seiner ästhetischen Grundkraft und damit des Zentrums seiner Kulturgesinnung, Deutschland zu erkennen, zu verehren und zu lieben. Ich habe die Überzeugung, daß auch in jedem gebildeten russischen Juden diese Pietatät für die deutsche Bildung lebendig ist. Und ich habe daher auch die Zuversicht, daß er unseren deutschen Waffengang mit Rußland aus seinem jüdischen Herzen heraus begleiten muß.“22
Aus einer jüdischen Perspektive rechtfertigt Cohen den Krieg gegen Rußland vor allem mit der Rechtlosigkeit der russischen Juden, denen noch nicht einmal das allgemeine Schulrecht zugestanden sei. Dem Aufruf eines englischen Juden, mit den Juden Rußlands gegen Deutschland zu kämpfen, mag Cohen daher nur noch mühsam gebremsten prophetischen Zorn entgegensetzen. In dieser Weltstunde dürfe wohl die Frage aufsteigen, ob etwa das Weltgericht über Rußland hereinbreche,
„nicht zuletzt aus der Rücksicht auf seine unverhüllten Maßregeln zur Austilgung des jüdischen Volkes. Jeder Jude, der von der Kulturkraft und daher von dem Lebensrecht seiner Religion überzeugt ist, muß sich glücklich schätzen, wenn sein Patriotismus ihm wenigstens Neutralität in diesem Krieg auferlegt. Er muß uns deutsche Juden aber beneiden“, so hebt Cohen hervor, „daß wir für unser Vaterland kämpfen, getragen zugleich von der frommen Zuversicht, daß wir mit dem größten Teil unserer Glaubensgenossen seine Menschenrechte erkämpfen werden. Deutschland, das Mutterland der abendländischen Judenheit, das Land der Geistesfreiheit und Sittenzucht, Deutschland wird mit seinem Siege Gerechtigkeit und Völkerfrieden in der Welt begründen. Darüber können wir“ – so schließt sein Aufruf an die Juden Amerikas – „auf diplomatische Zusicherungen verzichten. Wir vertrauen auf die Logik unseres Geschickes und unserer Geschichte.“23
VII.Kritik am Zionismus
Auf der Basis dieser Voraussetzungen, das heißt auf der Basis eines eigentümlichen Gemisches von rigoroser universalistischer Moral, partiellen Konzessionen an das Rassedenken und einer Deutung des prophetischen Judentums, das in seinem Sinn gerade die Zerstreuung unter die Völker als metageschichtlichen Sinn jüdischen Schicksals akzeptieren mußte, konnte Cohen die damals entstehenden zionistischen Gedanken, etwa Martin Bubers, nur ablehnen. Die Sammlung der Juden und die Beschränkung auf eine womöglich religiös inspirierte Nationalstaatsgründung in Palästina mußten in dieser Perspektive als Verrat am prophetischen Messianismus erscheinen. In doppelter Frontstellung sowohl gegen die ihm als relativistisch erscheinenden Ansichten Moritz Lazarus’, der ihm in seiner Ablehnung der Rassenlehre gewichtige materialistische Einsichten preiszugeben schien, als auch gegen Martin Bubers Partikularismus beharrt Cohen auf dem Gedanken einer jüdischen Nation als weltweiter Kulturnation. Dieses Beharren beruhte, wie kurz darauf sein Eintreten für das kriegführende Deutschland, auf dem, was man als „historisches Bewußtsein“ bezeichnet, was aber in Cohens Variante wenig anderes war als eine Variante geschichtsphilosophischen Fortschrittsglaubens. Wenn Cohen am Ende seines Appells an die amerikanischen Juden von der „Logik“ der Geschichte und des Geschickes der Juden spricht, so handelt es sich dabei nicht um eine nachlässige façon de parler, sondern um ein wohlüberlegtes geschichtsphilosophisches Argument.
Religion war für Cohen ein Teil der allgemeinen kulturellen Entwicklung der Menschheit, einer Entwicklung, die ihren eigenen Gesetzmäßigkeiten folgt. Den Zionismus lehnte Cohen nicht nur deshalb ab, weil er ihm zu sehr an utilitaristischen Zwecken eines glücklicheren Lebens und zu wenig am Rigorismus des Sittengesetzes orientiert war („Die Kerls wollen glücklich sein […]“), sondern aus der geschichtsphilosophischen Überzeugung heraus, daß er hinter das von den Propheten erreichte Niveau moralischer Universalität zurückfalle. Wo Theodor Herzl etwa aus dem Antisemitismus der Dreyfusaffäre die Konsequenz eines jüdischen Staates zog, beglaubigte Cohen den „geschichtlichen Sinn des Abschlusses der Dreyfusaffäre“:
„Wir dürfen in der Zuversicht leben, daß unser Leiden zu einem glorreichen Abschluß kommt; glorreich nicht etwa nur für uns, sondern für die ganze Menschheit. Es muß Recht auf Erden werden; die Gerechtigkeit darf nicht im Stande der Gnade und Toleranz bleiben. Wie unserem französischen Märtyrer, unserem Glaubensbruder in der französischen Armee, die Ehre wieder hergestellt wird, weil die heilige Gerechtigkeit es erfordert, so dürfen wir ein gleiches Schicksal für alle unsere Märtyrer erhoffen. Und für unsere religiöse Gesamtheit erkennen wir zuversichtlich den Zusammenhang unseres Martyriums mit dem Siege der Wahrheit und mit dem wahrhaften sittlichen Heile dere Menschheit.“24
VIII.Geschichtsphilosophie nach Hegel
Nun sind derlei Meinungen, als politische und religiöse Äußerungen aufs Ganze des deutschen Judentums des neunzehnten Jahrhunderts bezogen, alles andere als ungewöhnlich.
Systematisch stellt sich freilich bei dem methodologisch und wissenschaftstheoretisch versierten Autor des Prinzips der Infinitesimalmethode und seiner Geschichte aus dem Jahre 1883 die Frage nach der Legitimität der Neuformulierung einer Geschichtsphilosophie. Insofern sich nun die jüdische wie auch jede andere Religion in der Geschichte entfaltet hat, „Religion“ aber wie „Geschichte“ ein Begriff ist und alle Begriffe in der Vernunft ihren systematischen Ursprung haben, kann die Aufgabe einer zeitgemäßen Religionsphilosophie in nichts anderem bestehen, als den „Begriff der Religion durch die Religion der Vernunft zur Deckung“ zu bringen.25 Kaum anders als Hegel in seiner Philosophie der Geschichte beharrt auch Cohen auf dem Verfahren