Gesammelte Werke. Sinclair Lewis
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»Ich habe ›Die Verdammnis der Theron Ware‹ wieder gelesen. Kennen Sie es?«
»Ja. Es ist klug. Aber hart. Der Mann wollte niederreißen, nicht aufbauen. Zynisch. Oh, ich hoffe, ich bin nicht sentimental. Aber ich kann gar keinen Nutzen an dieser hohen Kunst sehen, die uns gewöhnliche Werkarbeiter nicht ermutigt, weiterzuschuften.«
Es folgte ein fünfzehn Minuten währender Streit über das älteste Thema in der Welt: Es ist Kunst, aber ist es hübsch? Carola versuchte viel über Ehrlichkeit der Beobachtung zu sagen. Fräulein Sherwin verteidigte Lieblichkeit und vorsichtigen Gebrauch der unangenehmeren Eigenschaften des Lichts. Schließlich rief Carola:
»Es macht mir gar nichts, daß wir nicht einer Meinung sind. Es ist eine Wohltat, einen Menschen zu haben, mit dem man auch über etwas anderes als die Ernte reden kann. Erschüttern wir Gopher Prairie in seinen Grundfesten: trinken wir Tee statt Kaffee.«
Die entzückte Bea half ihr den alten aufklappbaren Nähtisch, dessen gelbschwarze Oberfläche von den punktierten Linien des Schneiderrädchens zerkratzt war, aufstellen und decken: mit einem gestickten Tischtuch und dem violetten japanischen Teeservice, das Carola von St. Paul mitgebracht hatte. Fräulein Sherwin vertraute ihr ihren neuesten Plan an – moralische Filme für Landbezirke, mit Licht von einem transportablen Dynamo auf einem Fordwagen. Bea wurde zweimal gerufen, um die Heißwasserkanne nachzufüllen und Zimttoast zu machen.
Als Kennicott um fünf nach Hause kam, bemühte er sich, so vornehm höflich zu sein, wie es dem Gatten einer Dame ziemt, die Teebesuch hat. Carola schlug vor, daß Fräulein Sherwin zum Abendessen bleiben und Kennicott Guy Pollock, den vielgepriesenen Anwalt, den dichterischen Junggesellen, einladen solle.
Ja, Pollock konnte kommen. Ja, er hatte die Grippe überstanden, die ihn damals verhindert hatte, zu Sam Clark zu kommen.
Carola bedauerte ihren Impuls. Der Mann würde ein von sich eingenommener Politiker sein und plumpe Scherze über die junge Frau machen. Als Guy Pollock aber kam, merkte sie, daß er eine Persönlichkeit war. Pollock war ein Mann von vielleicht achtunddreißig Jahren, zierlich, still, achtungsvoll. Seine Stimme war leise. »Es war sehr freundlich von Ihnen, mich kommen zu lassen«, sagte er; er machte keine scherzhaften Bemerkungen und fragte sie nicht, ob sie Gopher Prairie nicht für »das munterste kleine Nest im Staate« halte.
Beim Abendessen sprach er von seiner Liebe für Sir Thomas Browne, Thoreau, Agnes Repplier, Arthur Simons, Claude Washburn und Charles Flandrau. Er führte seine Idole schüchtern vor, aber Carolas Belesenheit, Fräulein Sherwins umfangreiches Lob und Kennicotts Duldsamkeit für jedermann, der seine Frau unterhielt, ließen ihn ein wenig aus sich herausgehen.
Carola konnte nicht recht begreifen, warum Guy Pollock seine langweilige Praxis hier fortführte, warum er in Gopher Prairie blieb. Sie hatte niemand, den sie fragen konnte. Weder Kennicott noch Vida Sherwin hätten verstanden, daß es für einen Pollock Gründe geben könnte, nicht in Gopher Prairie zu bleiben. Sie freute sich über ihr kleines Geheimnis. Sie hatte ein Triumphgefühl und kam sich ein wenig literarisch vor. Sie hatte bereits eine Gruppe. Es würde nur noch eine kleine Weile dauern, bis sie in der Stadt Fächerfenster einführen und Galsworthy bekannt machen würde. Sie tat etwas! Als sie das schnell aus Kokosnuß und Orangenschnitten zusammengestoppelte Dessert anbot, rief sie Pollock zu: »Glauben Sie nicht, daß wir einen Theaterklub gründen sollten?«
Fünftes Kapitel
1
Als der erste zögernde Novemberschnee heruntergekommen war und die kahlen Schollen der gepflügten Felder zugedeckt hatte, als in der Heizung, die das Heiligtum jedes Gopher-Prairie-Heims ist, das erste kleine Feuer brannte, begann Carola von dem Haus Besitz zu ergreifen. Sie entfernte die Wohnzimmermöbel – den goldenen Eichentisch mit Messingknöpfen, die verbrauchten Brokatstühle, das Bild »Der Arzt«. Sie fuhr nach Minneapolis und suchte die Geschäfte und die kleinen Läden in der Zehnten Straße ab, die der Keramik und hohen Dingen geweiht sind. Sie mußte ihre Schätze verladen lassen, aber am liebsten hätte sie sie in ihren Armen heimgebracht.
Zimmerleute hatten die Trennungswand zwischen dem vorderen und dem hinteren Wohnzimmer entfernt, es in einen langen Raum verwandelt, an den sie viel Gelb und leuchtendes Blau verschwendete; ein japanisches Obi mit Goldstickerei auf steifem ultramarinblauen Gewebe, das sie an die maisgelbe Wand hing; ein Ruhebett mit saphirblauen Kissen und Goldborten; Stühle, die in Gopher Prairie frivol wirkten. Sie versteckte die heilige Familienphotographie im Eßzimmer und ersetzte das Wandtischchen, das sie getragen hatte, durch ein viereckiges kleines Schränkchen, auf das sie einen niedrigen blauen Krug zwischen zwei gelbe Kerzen stellte.
Kennicott war gegen einen Kamin. »In ein paar Jahren haben wir sowieso ein neues Haus.«
Sie schmückte nur einen Raum. Den Rest, meinte Kennicott, solle sie lieber verschieben, bis er »einmal alle Neun schöbe«.
Der braune Hauswürfel war aufgeweckt und lebendig gemacht worden; er schien in Bewegung zu sein; er begrüßte sie, wenn sie vom Einkaufen zurückkam; er verlor seine modrige Ausdruckslosigkeit.
Das oberste Urteil waren Kennicotts Worte: »Na, weiß Gott, ich hatte zuerst Angst, daß die neue Kiste nicht so behaglich sein würde, aber ich muß sagen, der Diwan, oder wie du's nennst, ist viel besser, als das versessene alte Sofa, das wir gehabt haben, und wenn ich mir so alles anseh' – also, ich glaub' wirklich, es ist wert, was es gekostet hat.«
Alles in der Stadt zeigte Interesse für die Neueinrichtung. Die Zimmerleute und Maler, die nicht selbst dabei zu tun hatten, gingen über den Rasen, sahen durch die Fenster hinein und riefen: »Großartig! Sieht fein aus!« Dave Dyer in der Drogerie, Harry Haydock und Raymie Wutherspoon im Bon Ton wiederholten tagtäglich: »Wie geht die Arbeit vorwärts? Das Haus soll ja richtig klassisch werden.«
Sogar Frau Bogart interessierte sich.
Frau Bogart wohnte auf der anderen Seite des Gäßchens, an dem die Hinterfront von Carolas Haus lag. Sie war Witwe, hervorragende Baptistin und ein »Guter Einfluß«. Sie hatte drei Söhne unter so viel Schmerzen zu christlichen Gentlemen aufgezogen, daß einer Mixer in Omaha, einer Griechisch-Professor und einer, Cyrus N. Bogart, ein Junge von vierzehn Jahren, der noch zu Hause lebte, das unverschämteste Mitglied der frechsten Lausbubenbande in Gopher Prairie geworden war.
Carola hatte beobachtet, daß Frau Bogart das Haus von ihrem Seitenfenster aus im Auge behielt. Die Kennicotts und Frau Bogart bewegten sich nicht in den gleichen Kreisen, was in Gopher Prairie eben dasselbe bedeutet wie in der Fifth Avenue und in Mayfair.
Aber die gute Witwe machte einen Besuch. Sie keuchte herein, reichte Carola eine breiige