Gesammelte Werke. Sinclair Lewis

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Gesammelte Werke - Sinclair Lewis

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ist gut. Ich will Ihnen was sagen: lassen Sie doch Raymond Wutherspoon singen.«

      »Raymie? Aber, meine Liebe, der ist doch der sentimentalste Winsler in der ganzen Stadt.«

      »Passen Sie auf, mein Kind! Sie haben sehr gesunde Ansichten übers Wohnungseinrichten, aber Ihre Ansichten über die Menschen sind miserabel. Freilich, Raymie wedelt mit dem Schweif. Aber der arme gute Kerl – er sehnt sich nach etwas, was er ›Ausdruck der Persönlichkeit‹ nennt, und hat doch nichts anderes gelernt als Schuhe verkaufen. Aber er kann singen. Und wenn er einmal die Bevormundung und den Spott Harry Haydocks los ist, wird er etwas Ausgezeichnetes anfangen.«

      Carola bat wegen ihrer Hochnäsigkeit um Entschuldigung. Sie forderte Raymie auf und warnte alle, die »Nummern« vorhatten: »Wir alle möchten gern, daß Sie singen, Herr Wutherspoon. Sie sind der einzige berühmte Künstler, der heute abend bei mir auftreten wird.«

      Während Raymie errötete und murmelte: »Ach, mich will doch kein Mensch hören«, räusperte er sich, zog sein sauberes Taschentuch etwas weiter aus der Brusttasche und steckte die Finger zwischen die Westenknöpfe.

      In ihrer Zuneigung für Raymies Beschützerin, in ihrem Wunsch, »künstlerisches Talent zu entdecken«, bereitete sich Carola darauf vor, von dem Vortrag entzückt zu sein.

      Raymie sang: »Fliege wie ein Vögelchen«, »Du bist mein Täubchen« und »Wenn das Schwälbchen aus dem Nestchen fliegt«, alles mit einem ziemlich schlechten Kirchentenor.

      Nach dem dritten ornithologischen Liedchen richtete Fräulein Sherwin sich aus ihrer Attitüde visionärer Begeisterung auf und hauchte Carola zu: »Mein Gott! Das war reizend! Natürlich hat Raymond keine besonders gute Stimme, aber finden Sie nicht auch, daß er so viel Gefühl hineinlegt?«

      Carola log entschlossen und großartig, doch ohne alle Originalität: »O ja, ich glaube, er hat sehr viel Gefühl!«

      Sie sah, daß die Zuhörer nach der Anstrengung, auf gebildete Weise zuzuhören, zusammengebrochen waren und ihre letzte Hoffnung darauf, sich zu unterhalten, aufgegeben hatten. Sie rief: »Jetzt wollen wir ein blödsinniges Spiel spielen, das ich in Chicago gelernt habe. Zunächst müssen Sie sich alle die Schuhe ausziehen. Und dann werden Sie sich wahrscheinlich die Beine und die Rippen brechen.«

      Große Aufmerksamkeit und Erstaunen. Einige Augenbrauen verkündeten das Urteil, Doktor Kennicotts junge Frau sei laut und unpassend.

      »Die beiden Schlechtesten, Juanita Haydock und ich, sollen die Schäfer sein. Alle andern sind Wölfe. Ihre Schuhe sind die Schafe. Die Wölfe gehen hinaus ins Vorzimmer. Die Schäfer verstreuen die Schuhe hier im Zimmer, dann machen sie alles finster, und die Wölfe kriechen vom Vorzimmer herein und versuchen im Finsteren, den Schäfern die Schuhe wegzunehmen – die Schäfer dürfen alles tun, nur nicht beißen und Totschläger benützen. Die Wölfe werfen die eroberten Schuhe ins Vorzimmer hinaus. Alle müssen mitmachen! Los! Schuhe runter!«

      Einer sah den anderen an, alle warteten darauf, daß jemand den Anfang mache.

      Carola schleuderte ihre Silberpumps ab und ignorierte die allgemeinen Blicke auf ihre Fesseln. Die verlegene, aber getreue Vida Sherwin knöpfte sich die hohen schwarzen Schuhe auf. Ezra Stowbody kicherte: »Also, Sie sind ein Schrecken für alte Leute. Sie sind wie die Mädels, die ich damals in den sechziger Jahren auf ungesattelten Pferden hab' reiten lassen. Ich bin ja nicht recht gewohnt, barfuß bei Gesellschaften zu sein, aber von mir aus!« Mit einem Ruf und einem mutigen Ruck zog Ezra seine Gummizugstiefeletten herunter.

      Die anderen lachten und folgten nach.

      Als die Schafe eingepfercht waren, krochen die ängstlichen Wölfe im Dunkeln in das Wohnzimmer, kreischten, hielten an, aus ihrer gewohnten Sicherheit herausgeworfen, weil sie durch ein Nichts auf einen wartenden Feind losgehen sollten, einen rätselhaften Feind, der sich ausdehnte und immer bedrohlicher wurde. Die Wölfe strengten die Augen an, um etwas zu erkennen, sie berührten vorübergleitende Arme, die zu keinem Körper zu gehören schienen, sie zitterten in wahnsinniger Furcht. Die Wirklichkeit war verschwunden. Plötzlich wurde ein gellender Schrei laut, dann Juanita Haydocks hohes Kichern, schließlich hörte man Guy Pollock erstaunt rufen: »Autsch! Lassen Sie los! Sie skalpieren mich ja!«

      Frau Luke Dawson galoppierte auf steifen Händen und Knien in die Sicherheit des erleuchteten Vorzimmers zurück und stöhnte: »Ich muß sagen, so durcheinander war ich noch nie in meinem Leben!« Aber ihre Gemessenheit war aus ihr herausgeschüttelt, und entzückt rief sie immer weiter: »In meinem ganzen Leben noch nicht«, während sie zuschaute, wie die Wohnzimmertür von unsichtbaren Händen geöffnet und Schuhe hinausgeschleudert wurden, während sie aus dem Dunkel hinter der Tür kreischen, stoßen und rufen hörte: »Da sind eine Menge Schuhe. Kommt her, Wölfe. Au! Lassen Sie doch, ja!«

      Als Carola plötzlich im kämpfenden Wohnzimmer Licht machte, saß die halbe Gesellschaft hinten an der Wand, an die sie sich während des Gefechts schlau zurückgezogen hatte, aber mitten auf dem Fußboden rang Kennicott mit Harry Haydock. Ihre Kragen waren abgerissen, das Haar fiel ihnen über die Augen; und der höchst verständige und weise Herr Julius Flickerbaugh zog sich von Juanita Haydock zurück, an einem ungewohnten Lachen würgend. Guy Pollock hing die bescheidene braune Krawatte am Rücken herunter. Die Batistbluse der jungen Rita Simons hatte zwei Knöpfe eingebüßt und zeigte mehr von ihrer rundlichen Schulter, als in Gopher Prairie für züchtig gehalten wurde. Ob aus Empörung, Widerwillen, Kampfesfreude oder infolge der Bewegung, alle waren von ihren Jahren gesellschaftlicher Würde befreit. George Edwin Mott kicherte, Luke Dawson zupfte an seinem Bart; Frau Clark sagte immer wieder: »Ich hab' auch mitgemacht, Sam – ich hab' einen Schuh erwischt – ich hätt' nie gedacht, daß ich so schrecklich raufen kann!«

      Carola war überzeugt davon, daß sie eine große Reformatorin sei.

      Sie hatte Kämme, Spiegel, Bürsten, Nadel und Zwirn in Bereitschaft. Sie erlaubte ihren Gästen, sich wieder in den göttlich anständigen Zustand der Zugeknöpftheit zurückzubegeben.

      Die grinsende Bea brachte einen Haufen weicher, dicker Papierbogen herunter, die mit blauen, roten und grauen Lotosblüten, Drachen, Affen bemalt waren, und mit purpurroten Vögeln, die in den Tälern des Landes ›Nirgendwo‹ zwischen meergrünen Bäumen umherflogen.

      »Das«, verkündete Carola, »sind richtige chinesische Maskenkostüme. Ich habe sie aus einem Importgeschäft in Minneapolis. Die sollen Sie jetzt über Ihre Kleider anziehen, und vergessen Sie, bitte, daß Sie aus Minnesota sind, verwandeln Sie sich in Mandarine und Kulis und Samurais (so heißt's doch, nicht?), und was Sie sich sonst noch ausdenken können.«

      Während man schüchtern mit den Papierkostümen raschelte, verschwand sie. Zehn Minuten später blickte sie von der Treppe auf grotesk derbe Yankeeköpfe über orientalischen Gewändern hinunter und rief ihnen zu: »Die Prinzessin Winky Poo begrüßt ihren Hof!«

      Als sie zu ihr hinaufschauten, sah sie, daß alle sie bewunderten. Die Gäste erblickten eine zierliche Gestalt in Hosen und einem mit Gold eingefaßten grünen Brokatrock; mit hohem Goldkragen unter stolzem Kinn; schwarzes Haar, in dem Jadesteinnadeln staken; eine weiche Pfauenfeder in der ausgestreckten Hand; alle Augen blickten empor wie zu einer Pagodenvision. Als sie ihre Pose fallen ließ und hinunterlächelte, entdeckte sie Kennicott, den vor Hausherrenstolz fast der Schlag rührte, und den grauen Guy Pollock, der flehend hinaufstarrte. Eine Sekunde lang sah sie in der ganzen roten und braunen Masse von Gesichtern nichts als den Hunger dieser beiden Männer.

      Sie schüttelte den Bann ab und lief hinunter. »Jetzt wollen wir ein richtiges chinesisches Konzert machen. Die Herren Pollock, Kennicott und, ja, Stowbody sind Trommler. Wir anderen singen

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