Gesammelte Werke. Sinclair Lewis
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Vida Sherwin kam nach der Schule zehn- oder zwölfmal zu ihr. Sie war taktvoll und strömte von Anekdötchen über. Sie war in der Stadt umhergelaufen und hatte Komplimente eingesammelt: Frau Dr. Westlake hatte Carola eine »sehr liebe, kluge, gebildete junge Frau« genannt, und Brad Bemis, der Klempner in Clarks Eisenwarenladen hatte erklärt, sie sei »angenehm zu bedienen und schrecklich angenehm zum Anschauen«.
Aber Carola konnte ihr noch nicht recht vertrauen. Sie ärgerte sich darüber, daß dieser Eindringling von ihrer Schande wußte. Vida blieb auch nicht zu lange duldsam. Sie bemerkte: »Sie sind eine große Grüblerin, mein Kind. Rappeln Sie sich jetzt auf. Die Stadt hat jetzt damit aufgehört, Sie zu bekritteln, fast ganz. Kommen Sie mit mir in den Thanatopsisklub. Die Damen haben dort wirklich ausgezeichnete Vorträge und Diskussionen über aktuelle Ereignisse, sehr interessant.«
Carola spürte in Vidas Bitten einen Zwang, aber sie war zu gleichgültig, um zu folgen.
Doch ihre eigentliche Vertraute war Bea Sorenson.
So liebevoll gegen die unteren Klassen Carola sich auch vorgekommen sein mochte, sie war zum Glauben erzogen worden, daß Dienstboten zu einer anderen und untergeordneten Spielart gehören. Aber sie fand, daß Bea eine ganz außerordentliche Ähnlichkeit mit den Mädchen hatte, die ihr im College lieb gewesen waren, und daß sie als Gefährtin den jungen Ehefrauen der Lustigen Siebzehn durchaus vorzuziehen war. Täglich wurden sie mit mehr Freimut zwei Mädchen, die Hausarbeit spielten. Bea hielt in aller Unschuld Carola für die schönste und gebildetste Dame im Lande; sie rief immer: »Je, ist das ein feiner Hut!« oder: »Ich glaub', die Damen müssen ganz einfach platzen, wenn sie sehen, wie elegant Sie sich frisieren!«
Aber es war weder die Demut eines Dienstboten noch die Heuchelei einer Sklavin, es war die Bewunderung des Fuchses für die Juniorin.
Sie stellten gemeinsam die Tagesmahlzeiten zusammen. Obgleich es in aller Korrektheit damit begann, daß Carola am Küchentisch saß und Bea beim Abguß war oder den Herd putzte, endete die Besprechung fast immer damit, daß beide am Tisch saßen und Bea glucksend von den Versuchen erzählte, die der Eismann gemacht hatte, um sie zu küssen, oder daß Carola sagte: »Jeder Mensch in der Stadt weiß, daß der Doktor viel tüchtiger ist als Dr. McGanum.«
Wenn Carola vom Einholen heimkam, stürzte Bea ins Vorzimmer, um ihr den Mantel abzunehmen, ihr die erfrorenen Hände zu reiben und sie zu fragen: »Waren heute viele Leute in der Stadt?« Das war der Willkomm, auf den Carola wartete.
6
In den Wochen ihrer Gebrochenheit war in ihrem äußeren Leben keine Änderung zu sehen. Niemand außer Vida merkte, wie sie litt. An den Tagen der größten Verzweiflung plauderte sie mit den Frauen auf der Straße und in den Läden. Aber ohne Kennicotts Schutz wagte sie sich nicht zur Lustigen Siebzehn; sie lieferte sich dem Gericht der Stadt nur aus, wenn sie einkaufen ging, und bei den rituellen Gelegenheiten formeller Nachmittagsbesuche, wenn Frau Lyman Cass oder Frau George Edwin Mott mit sauberen Handschuhen, kleinen Taschentüchern, Sealskintäschchen und Mienen erstarrter Zustimmung auf Stuhlkanten saßen und fragten: »Finden Sie Gopher Prairie angenehm?« Wenn sie abends bei den Haydocks oder den Dyers sein mußte, versteckte sie sich hinter Kennicott und spielte die bescheidene junge Frau.
Jetzt war sie schutzlos. Kennicott hatte einen Patienten einer Operation wegen nach Rochester gebracht. Er mußte zwei oder drei Tage wegbleiben. Sie hatte sich nichts daraus gemacht; sich darauf gefreut, sie würde die Gebundenheit der verheirateten Frau etwas lockern und eine Zeitlang das junge Mädchen spielen. Aber nun, da er gegangen war, war das Haus hörbar leer. Bea hatte an diesem Nachmittag Ausgang – sie war wohl bei ihrer Kusine Tina, trank Kaffee und unterhielt sich über »Schätze«. Es war der Tag, an dem das allmonatliche Abendessen mit der Bridgepartie in der Lustigen Siebzehn stattfand, aber Carola traute sich nicht hinzugehen.
Sie saß allein.
Neuntes Kapitel
1
Im Haus spukte es schon lange vor dem Abend. Schatten glitten die Wände herab und warteten hinter jedem Stuhl.
Bewegte sich die Tür?
Nein. Sie würde nicht zur Lustigen Siebzehn gehen. Sie hatte nicht Kraft genug, vor ihnen Männchen zu machen, freundlich zu Juanitas Ungezogenheit zu lächeln. Heute nicht. Aber sie mußte Gesellschaft haben. Jetzt! Wenn heute nachmittag nur jemand käme, jemand, der sie gern hatte – Vida oder Frau Sam Clark oder die alte Frau Champ Perry oder die freundliche Frau Dr. Westlake. Oder Guy Pollock! Sie würde anrufen –
Nein. Das wäre nicht das richtige. Sie mußten von selbst kommen.
Vielleicht würden sie kommen.
Warum nicht?
Sie würde auf jeden Fall Tee bereit haben. Kamen sie – ausgezeichnet. Wenn nicht – was lag ihr daran? Sie wollte nicht der Stadt nachgeben, keine Konzessionen machen. Sie wollte am Tee festhalten, der für sie immer das Symbol eines behaglich noblen Daseins gewesen war. Und es würde genau so nett sein, auch wenn es kindisch war, allein Tee zu trinken und so zu tun, als hätte sie kluge Menschen bei sich. Jawohl!
Sie setzte den glänzenden Gedanken in die Tat um. Sie eilte in die Küche, machte ein Holzfeuer, sang Schumann, während sie das Wasser im Kessel kochen ließ, wärmte Rosinenbackwerk auf dem mit einer Zeitung bedeckten Bratrost im Herd auf. Sie sprang hinauf, um ihr feinstes Teetuch herunterzuholen. Sie richtete ein Silbertablett her. Stolz trug sie es in das Wohnzimmer und stellte es auf den langen Kirschholztisch, schob einen Stickrahmen zur Seite, einen Band Conrad aus der Bibliothek, Nummern der »Saturday Evening Post«, des »Literary Digest« und Kennicotts »National Geographical Magazine«.
Sie rückte das Tablett vor und zurück und betrachtete die Wirkung. Sie schüttelte den Kopf. Sie klappte eifrig den Nähtisch auf, stellte ihn ans Fenster in den Erker, strich das Teetuch glatt, trug das Tablett hin. »Ich werd' schon einmal einen Teetisch aus Mahagoni haben«, sagte sie zufrieden.
Sie hatte zwei Tassen und zwei Teller hereingebracht. Für sich einen geraden Stuhl, für den Gast aber den großen Ohrenstuhl, den sie keuchend zum Tisch schleppte.
Sie war mit allen Vorbereitungen fertig, an die sie denken konnte. Sie setzte sich und wartete. Sie lauschte auf die Türklingel, auf das Telephon. Ihr Eifer war vorbei. Ihre Hände sanken herab.
Ganz bestimmt würde Vida Sherwin den Ruf hören.
Sie blickte das zweite Gedeck an. Sie blickte den Ohrenstuhl an. Er war so leer.
Der Tee in der Kanne war kalt. Verdrossen probierte sie es mit den Fingerspitzen. Ja. Ganz kalt. Sie konnte nicht länger warten.
Die zweite Tasse war eiskalt sauber, glitzernd leer.
Einfach lächerlich, zu warten. Sie schenkte sich eine Tasse Tee ein. Sie saß da und starrte sie an. Was hatte sie denn nur jetzt tun