Gesammelte Werke. Sinclair Lewis
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Doch Kennicott schritt munter ins andere Zimmer, und sie folgte ihm. Mit einer zarten Geschicklichkeit, die an seinen plumpen Fingern überraschte, nahm er die Handtücher ab und entblößte einen Arm, der vom Ellbogen abwärts eine Masse aus Blut und rohem Fleisch war. Der Mann schrie auf. Das Zimmer um sie wurde trübe; es war ihr sehr schlecht; sie floh zu einem Stuhl in der Küche. Durch den Nebel ihrer Übelkeit hörte sie Kennicott brummen: »Wird leider runter müssen, Adolph. Was haben Sie gemacht? Auf ein Mähmaschinenmesser gefallen? Wir werden die Sache schon in Ordnung bringen. Carrie! Carola!«
Sie konnte nicht – sie konnte nicht aufstehen. Dann stand sie, ihre Knie waren wie Wasser, der Magen drehte sich ihr tausendmal in einer Sekunde um, ihre Augen verschleierten sich, in ihren Ohren toste es. Sie konnte nicht bis ins Speisezimmer kommen. Sie mußte ohnmächtig werden. Dann war sie im Speisezimmer, lehnte an der Wand, wollte lächeln, an Brust und Seiten überlief es sie heiß und kalt, während Kennicott murmelte: »Hör mal, hilf Frau Morgenroth und mir ihn auf den Küchentisch tragen. Nein, zuerst geht hinaus, schiebt die zwei Tische dort aneinander und legt eine Decke und ein sauberes Leintuch drauf.«
Es war eine Erlösung, die schweren Tische zu schieben, sie zu säubern, das Leintuch sorgfältig glatt zu legen. Ihr Kopf wurde klarer; sie war imstande, ruhig zuzusehen, wie ihr Mann und die Frau den jammernden Mann auszogen, ihn in ein reines Nachthemd bekamen und seinen Arm abwuschen. Kennicott kam seine Instrumente herrichten. Sie begriff, daß ihr Mann – ihr Mann – ohne die Hilfsmittel einer Klinik, ohne sich darum zu bekümmern, eine chirurgische Operation durchführen würde, eine jener wunderbaren Heldentaten, von denen man in Büchern über berühmte Chirurgen las.
Sie half ihnen, Adolph in die Küche zu schaffen. Der Mann hatte solche Angst, daß er seine Beine nicht gebrauchen wollte. Er war schwer und roch nach Schweiß und Stall. Allein sie legte ihm den Arm um die Taille, ihr Kopf war an seiner Brust; sie schleppte ihn.
Als Adolph auf dem Tisch lag, breitete Kennicott ein halbkugelförmiges Gestell aus Stahl und Baumwolle über sein Gesicht und sagte zu Carola: »Jetzt setzt du dich hierher an seinen Kopf und läßt den Äther tropfen – ungefähr in der Geschwindigkeit, siehst du? Ich beobachte seinen Atem. Na, sieh mal! Eine richtige Assistentin! Ochsner hat keine bessere gehabt! Klasse, was? … Na, na, Adolph, nur ruhig. Das tut Ihnen gar nicht weh. Das wird Ihnen wohltun und Sie einschläfern und wird Ihnen gar nicht weh tun. Nicht reden! Bald schläft man wie ein Kind. So! So! Gleich ist es besser!«
Während sie den Äther tropfen ließ und sich aufgeregt Mühe gab, den Rhythmus einzuhalten, den Kennicott gezeigt hatte, starrte sie ihren Mann in überströmender Heldenverehrung an.
Er schüttelte den Kopf. »Schlechtes Licht – schlechtes Licht. Hier, Frau Morgenroth, Sie stellen sich hierher und halten diese Lampe. Hierher, und diese Lampe – diese Lampe halten – so!«
Bei dieser ungleichmäßigen Beleuchtung arbeitete er, rasch und leicht. Im Zimmer war es still. Carola bemühte sich, nur ihn anzusehen, nicht das fließende Blut, den roten Schnitt, das grausame Skalpell. Die Ätherdünste waren süß, benahmen den Atem. Der Kopf schien ihr vom Körper wegzuschweben. Ihr Arm war schwach.
Nicht das Blut, sondern das Knirschen der Knochensäge auf dem lebendigen Knochen gab ihr den Rest, und sie wußte, daß sie mit der Übelkeit gekämpft hatte, daß sie von ihr besiegt war. Es schwindelte ihr. Sie hörte Kennicotts Stimme:
»Schlecht? Geh für ein paar Minuten an die Luft. Adolph bleibt jetzt schon unter Narkose.«
Sie tappte an einem Türschloß herum, das sich in wahnsinnigen Kreisen herumdrehte; sie war auf der Schwelle, keuchte, atmete gewaltsam Luft in die Brust, ihr Kopf wurde klarer. Als sie zurückkam, sah sie das Bild als Ganzes: die kellerähnliche Küche, zwei Milchkannen an der Wand, Schinken, die an einer Stange baumelten, Lichtstreifen an der Ofentür, und in der Mitte, im Licht einer kleinen Küchenlampe, die eine erschrockene, untersetzte Frau hielt, beugte sich Dr. Kennicott über einen Körper unter einem Leintuch – der Chirurg, die nackten Arme mit Blut beschmiert, seine Hände mit den hellgelben Gummihandschuhen lockerten die Aderpresse, sein Gesicht zeigte nur dann Bewegung, wenn er den Kopf hochhob und der Farmersfrau beruhigend zurief: »Halten Sie das Licht nur noch eine Sekunde ruhig – nur noch ein wenig.«
»Er spricht ein gemeines, gewöhnliches, unkorrektes Deutsch von Leben und Tod und Geburt und Dreck. Ich lese das Französisch und das Deutsch der sentimentalen Liebespaare. Und mich hab' ich für die Gebildete gehalten!« dachte sie anbetungsvoll, während sie auf ihren Platz zurückkehrte.
Nach einer Weile sagte er kurz: »Das genügt. Gib ihm keinen Äther mehr.« Seine Gedanken waren beim Abbinden einer Arterie. Seine Barschheit kam ihr heroisch vor.
Als er den Fleischlappen zurechtlegte, murmelte sie: »Ach, du bist wirklich wundervoll!«
Er war überrascht. »Nanu, das ist doch eine Kleinigkeit. Ja, wenn es so gewesen wär' wie vorige Woche – gib mir noch Wasser. Also – vorige Woche hatt' ich 'n peritonitisches Exsudat, und, weiß der liebe Himmel, dann war's 'n perforierter Magen, auf den ich gar nicht gefaßt war, und – So. Hör mal, ich bin wirklich schläfrig. Bleiben wir hier. Es ist zu spät zum Nachhausefahren. Außerdem sieht mir's so aus, als ob ein Sturm käme.«
4
Sie schliefen auf einem Federbett, mit ihren Pelzmänteln zugedeckt; am Morgen mußten sie das Eis im Waschkrug aufschlagen.
Kennicotts Sturm war nicht gekommen. Als sie aufbrachen, war es neblig und wurde wärmer. Nach einer Meile sah sie, daß er eine dunkle Wolke im Norden studierte. Er trieb die Pferde an. Allein in ihrem Staunen über die tragische Landschaft vergaß sie seine ungewohnte Eile. Der helle Schnee, die Stacheln der alten Stoppelfelder und die Klumpen zerfetzten Gebüschs verschwammen in finsteres Grau. Unter den Anhöhen lagen kalte Schatten. Die Weiden um ein Farmhaus wurden von dem lebhafter werdenden Wind bewegt, und die Flecken nackten Holzes an den Stellen, wo die Rinde sich abgeschält hatte, waren weiß wie das Fleisch eines Aussätzigen. Das ganze Land war grausam, und eine aufsteigende schwarze Wolke mit grauen Rändern beherrschte den Himmel.
»Das sieht nach einem Blizzard aus«, meinte Kennicott. »Aber bis zu Ben McGonegal können wir auf jeden Fall noch kommen.«
»Ein Blizzard? Wirklich? Und als ich ein Mädchen war, hat es uns immer Spaß gemacht! Papa mußte zu Haus bleiben und konnte nicht aufs Gericht, und wir haben am Fenster gestanden und dem Schnee zugesehen.«
»Auf der Prärie ist es kein Spaß. Man verirrt sich. Erfriert und stirbt. Wir dürfen nichts riskieren.« Er lockte die Pferde. Diese flogen jetzt dahin, der Wagen schaukelte in den harten Fahrgeleisen.
Die ganze Luft kristallisierte sich plötzlich in große feuchte Schneeflocken. Die Pferde und die Büffelhautdecke wurden von den Flocken zugedeckt. Ihr Gesicht wurde naß; der dünne Peitschenstiel bekam einen spitzen weißen Rand. Die Luft wurde kälter. Die Schneeflocken waren härter; sie schossen in horizontalen Linien heran, schnitten ihr ins Gesicht.
Sie konnte keine hundert Fuß vor sich sehen.
Kennicott war ernst. Er beugte sich vor, die Zügel fest in den Waschbärhandschuhen. Sie war sicher, daß er durchkommen würde. Er kam immer durch.
Nur er blieb, sonst verschwand die Welt und alles gewöhnliche Leben. Sie waren in wirbelndem Schnee verloren. Er beugte sich zu ihr, um ihr zuzuschreien: »Ich werd' den Pferden ihren Willen lassen. Die bringen uns