Die größten Klassiker der deutschen Literatur: Sturm und Drang. Johann Gottfried Herder
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Unser Sprachgebrauch, und, was noch ärger ist, unsre gemeine Erziehung verwechselt sie: man lernt, sich von Jugend auf über eine widrige Wahl der Kleidungsfarben, über unmodische Stücke des Anputzes, über misrathne Komplimente schämen, bis zur Röthe schämen, sich schämen, als ob uns die Steine auszulachen schienen; aber wie lange hat man schon die Kunst in die Stelle der Natur gesetzt, und Menschliche Verabredungen zu Naturtrieben erhoben? Wie lange aber, frage ich weiter, hat es nicht auch halbkluge Spötter gegeben, die, da sie Etwas in solchen Sachen Menschlich verabredet, gesellschaftlich eingerichtet fanden; endlich alles im Menschen für Menschlich verabredet, für willkürlich eingepflanzet, hielten. Sie bestürmten also auch die heiligen Gesetze der Natur: sie entweiheten also auch den Altar der liebenswürdigsten Tugend Schaamhaftigkeit: ja sie, die frechsten Cyniker, und der Pöbel der Epikureer baueten endlich der Unverschämtheit selbst Altäre. Wenn die Vermischung des Angenommenen mit dem Natürlichen in dieser Empfindung also weit abführen kann: ich dächte, so könnte doch der Philosoph frei unterscheiden dörfen, und das Gesetz des Aristoteles anwenden: den Jünglingen macht Schaamhaftigkeit Ehre, den lehrenden Alten aber Schande. Ich fahre also fort.
Die künstliche gesellschaftliche Schaamhaftigkeit kann sich verschieden äußern: in der Sorgfalt, seinen Körper zu produciren: »Reinlichkeit, Anstand, u.s.w.,« in hundert Gebärden, Worten, Stellungen, Thaten, die, als artig, als schön, verabredet sind: da wollen wir sie »Anständigkeiten, Artigkeiten« nennen: gnug! sie sind gesellschaftlich gebildet. Die Empfindung darüber stieg nicht aus dem Herzen auf die Wangen, sondern erst aus eingepflanzten Begriffen ins Herz hinein: sie richtet sich also nach diesen eingepflanzten Begriffen. Da sie von der Kunst, man nenne diese Erziehung, oder Lebensart, oder Stuffe der Cultur, oder Geschmack, sich zu betragen, oder Politesse, oder Galanterie, oder, wie man wolle – Ich sage, da sie von der Kunst einer Gesellschaft Gesetze empfängt, so hat sie sich auch immer nach der Beschaffenheit, nach dem Tone der Gesellschaft, nach Zeitalter, Nation, u.s.w. gestimmet. Sie ist ein Kind der Mode, und also veränderlich, wie der Geist ihrer Mutter. Jetzt wird sie in dieser Kleidertracht, in diesem Ausdrucke, in dieser Stellung beschämt, in welcher sie kurz voraus nicht beschämt ward, und bald hernach nicht mehr beschämt seyn wird. In dieser Gesellschaft wird die Deutsche Sprache, in jener die Deutsche Ehrlichkeit, in dieser der Französische Wind, in jener die Französische Sprache, Wechselsweise lächerlich und beschämend, oder anständig. Wer sich in solchen Sachen mit Anständigkeiten brüsten kann, wird sich auch über solche Unanständigkeiten beschämen lassen. Die Schaam ist hier ein Geschöpf des Wahns der Menschen, und muß sich also durchaus nach ihrem Schöpfer richten.
Ich habe mir noch eine Unterscheidung nöthig. Wie diese gesellschaftlich formirte Schaam nicht eigentlich ein Geschöpf der Natur ist; so ist sie auch nicht nothwendig mit Tugend einerlei: sie ist von der Moralischen Schaam völlig verschieden. Als jener Spötter vom Parterre herauf rief: »An diesen Damen ist nichts so keusch, als die Ohren!« so mag man ihn immer unverschämt, sündigend gegen die Gesetze des gesellschaftlichen Anstandes haben erkennen können: so unwahr, so gerade gegen Moralische Schaamhaftigkeit redete er eben nicht. Wenn man ihn gefragt hätte: wie? Unverschämter! muß denn an einer Dame das Ohr nicht keusch seyn? und das der Anständigkeit wegen! so hätte er erwiedern dörfen: und, eben der Anständigkeit wegen, darf da an eben derselben Dame wohl nothwendig Alles so keusch seyn, als das Ohr? – Nicht, als wenn es nicht seyn könnte, sondern seyn müßte: als wenn die Bürgerliche, schon die Moralische Schaamhaftigkeit wäre, und das ist sie nicht! Die Moralische Schaamhaftigkeit vor Einem Laster, als Laster, ist ganz etwas Anders!
Oft scheinen sie sich nahe zu kommen; aber oft zu nahe, so, daß die Eine die Andre unnöthig zu machen glaubt. Da die Politische Tugend oft als der Schein der wahren Tugend gilt: so läßt man sich oft mit dem Scheine begnügen, und natürlich, daß man alsdenn um so mehr auf den Schein erpicht seyn wirb, je weniger man das Wesen hat. Wer mit gefärbtem Glase, wie mit Edelgesteinen, prangen darf, wird diese um so mehr aufputzen, sie um so mehr zur Schau stellen, und wehe dem! der alsdenn nicht auch gefärbtes Glas hat. Je weniger man vielleicht eine Tugend inne hat, desto mehr wird man sich vielleicht im Kanzleistyle dieser Tugend üben: je unzüchtiger man denkt, desto mehr vielleicht die Keuschheit seines Ohrs schonen, desto ekler, desto wähliger und üppiger in der Wortwürde werden; desto eher nach Zweideutigkeiten haschen. Wer diese am besten kennet, wer diese in einer Gesellschaft zuerst, und vielleicht einzig und allein, aufmerkt, und darüber anständig erröthet, und artig darüber in Unwillen geräth – artig, freilich artig und anständig ist dieser schaamhafte Unwille, ob aber auch deßwegen wirklich und nothwendig, eine Schaamröthe der unwissenden Unschuld, der unwilligen Tugend? Nicht nothwendig!
Ich habe blos den Unterschied der Begriffe, zwischen Naturempfindung, gesellschaftlicher und Moralischer Schaam entwickelt; und verhülle, wie Sokrates, da er von der Liebe dithyrambisirte, mein Gesicht, um keiner von dreien zu nahe zu treten. Nur eben aus Verehrung will ich die Naturempfindung nicht mit Coquetterie, und die schönste der Tugenden nicht mit ihrer Nachäfferin, der unzüchtigen Ehrbarkeitspedantin verwechselt haben. Vielleicht sind Leser, die auch die Erste von dreien für einen Gesellschaftstrieb halten, denen wiederspreche ich nicht; sie ist aber alsdenn wenigstens ein Zögling der Menschlichen, nicht blos Bürgerlichen, nicht blos artigen Gesellschaft: sie ist näher unsrer Natur; und das nur habe ich sagen wollen.
1 Iliad. Ξ v. 346.
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