Die größten Klassiker der deutschen Literatur: Sturm und Drang. Johann Gottfried Herder
Чтение книги онлайн.
Читать онлайн книгу Die größten Klassiker der deutschen Literatur: Sturm und Drang - Johann Gottfried Herder страница 270
Das Ende der Homerischen Briefe verliert sich völlig im Sande. Der Verfasser bekennet: »er habe geschrieben, was ihm in die Gedanken, und in die Feder gekommen, daß er ein gutes Gewissen dem Ruhme gelehrter Verdienste vorziehe, daß ein andrer Ausleger Homers freilich auch andre Dinge über denselben sagen könne: ego vero quid habeo, quo me extollam? Voluntas atque ardor nunquam defuit, sed defuere alia13 – –« Nur wie? wenn Hr. Kl. Homerische Briefe schreiben wollte, warum, daß er nichts würdigers schrieb? wenn er das Andenken Homers erneuern wollte, warum that er nicht, wie jener Thersagoras bei Lucian, an Homer ein Gebet, ihn würdig schreiben zu lassen? Warum übergab er der Welt seine Scherbensammlung von Meinungen für Homerische Briefe?
Als Homerische Briefe hat sein Buch, dem Inhalte nach, der eines Theils nicht tief gnug überdacht, andern Theils, gar zu gemein, und auf allen Scheidwegen bekannt ist, und, dem Vortrage nach, der aus einer Parenthese von Materie, levissimus transfuga! in eine andre fällt, und keine erschöpft; in beiden haben die Homerischen Briefe vielleicht nur den sicheren Nutzen, Homer durch eine feine Figur, die man Ironie nennt, zu loben. Sie klagen ihn als einen unzeitigen Lacher, an, damit man es desto tiefer bei ihm fühle; alles sey bei ihm an seinem Orte. Sie beschuldigen ihn der Ungeschliffenheit der Sitten seiner Zeit, damit man in diesen die edle Einfalt so mehr bewundere, liebe, und kennen lerne. Sie fodern ihn vor, daß er dem Leser manchmal beschwerlich falle; und um so fleißiger übe ich mich, die Musik in ihm zu empfinden, die eine Empfindung, wie eine Welle aus der andern hebt, und in eine dritte fort wälzet. Sie loben nur παρεργα an Homer, daß ich das eigentliche Wesen seiner Muse desto inniger verehren lerne. Sie scheinen, ihn nur aus Parallelen fühlen zu wollen; ich liebe die Schönheiten in ihm, die sich nicht plenis buccis vergleichen, die sich kaum in Augenschein setzen, kaum in Worte einfassen; aber desto mehr, an ihrem Orte, Homerisch empfinden lassen. Sie nehmen seinetwegen Gelegenheit, die Mythologie zu verbannen, und zu verkleinern; ich, die Schönheit, und Poetische Congruität der Homerischen Mythologie zu beherzigen. Sie halten es für die schönste Nachläßigkeit, vom Hundertsten aufs Tausendste zu kommen; mein Homer immer bei der Stange zu bleiben – – So will ich sie zu erst; alsdenn den Griechen selbst lesen, und ihm nachher jedesmal ein Stück dieser Homerischen Briefe opfern!
– – animamque poetæ
His saltem accumulem donis, & fungar inani
Munere – –
1 p. 136–144.
2 p. 144–147.
3 p. 148–158.
4 p. 158–188.
5 Ernest. Opusc. philol. critic. p. 126. Die Citation dieses Stücks im Indice des genannten Buchs ist zu corrigiren.
6 p. 188–223.
7 Viert. Gesang p. 120.
8 p. 224–232.
9 p. 233–51.
10 p. 251–67.
11 p. 274 etc.
12 p. 271–81.
13 p. 282.
II. Ueber die Schaamhaftigkeit Virgils.
I.
Der Verfasser homerischer Briefe bietet nur seine Hand dar,1 mich von der Bildsäule des griechischen, zur Statue des römischen Homers zu führen, und mir denselben in aller Größe und Liebenswürdigkeit zu zeigen. Daß dies sein Zweck sey, bezeuget der lange Eingang2 von Klagen, daß man die Alten nicht recht lese, treibe; sie also auch nicht so lieben könne, als – als Hr. Kl. uns vermuthlich an Virgil zeigen will.
Dazu aber, dazu dünkt mich das klotzische Thema wohl nicht das gewählteste. Noch so genau ausgeführt, kann es uns Virgil, als einen schamhaften, keuschen, züchtigen Dichter, vorstellen, es kann ihn uns, als einen moralisch reinen Gesellschafter, empfehlen; ob aber deßwegen, als einen unterhaltenden, liebenswürdigen Gesellschafter? ob, als einen vortrefflichen Poeten, dessen Genie begeistern, dessen poetische Kunst lehren könne? Das sehe ich, im Thema, nicht unmittelbar enthalten. Anmerkungen hierüber werden Ausschweifungen seyn müssen, oder – kurz! die lange Klagenvorrede vom unwürdigen, genielosen, unpoetischen, unangenehmen Gebrauche der Alten, steht nicht an ihrem Orte. Auch das selbst ist ein unpoetischer Gebrauch Virgils, wenn ich in ihm darauf ausgehe, Zucht und Keuschheit aufzusuchen; nicht sein Genie, seine Kunst, seine poetische Ader. Statt die Schönheiten, die entzückenden Schönheiten seiner Muse, zu betrachten, ists wohl eine würdigere Ocularinspection, ob Virgils Muse auch – eine reine, keusche Jungfer sey? Würdige Bemühung, aber für fromme Großtanten, und für kunsterfahrne Hebammen würdig, nicht für den entzückten Liebhaber in der ersten Umarmung.
Um aller keuschen Musen und Gratien willen! will ich der Schaamlosigkeit der Dichter nicht das Wort reden, und die Schaamhaftigkeit der Schriftsteller überhaupt heruntersetzen. Ich wünsche, daß der Geist der feinern Lebensart, oder warum darf ich nicht sagen? des züchtigen Christenthums, sich auch in Schriften zeige, und daß man minder die Ehrfurcht verläugne, die man der Würde des Publicums schuldig ist – ein Name, der den Meß-Schriftstellern unsrer Zeit beinahe so fremde, utopisch und lächerlich geworden, als er, den Griechen, insonderheit die für Athen, für die Welt und Nachwelt schrieben, ehrwürdig war. Der moralische Geist, mit welchem unser Jahrhundert durchdrungen seyn könnte, sollte uns einen Moralischen Verderb, den unsre Schrift stiften könne, wichtiger und gewissenhafter machen, als zehn poetische Schönheiten. – – Dies gilt auch, und noch mehr von Poeten; denn ihr Gift ist süßer, fließt leichter ein, wirkt länger und stärker. – –
Auch will ich das nicht gesagt haben, daß man in Bildung der Jugend über die moralischen Beschaffenheiten eines Dichters völlig hinweg, und nur die poetischen Schönheiten ansehen solle: daß ein Virgil und Catull gleich gute Autoren der Jugend seyn, und die Priapea etwa die goldenen Sprüche Pythagoras abwechseln könnten.