Die größten Klassiker der deutschen Literatur: Sturm und Drang. Johann Gottfried Herder
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Ich finde die Beobachtungen meines Philosophen so genau und unterscheidend, daß ich sie auf der Bahn meines Zweckes als ein würdiges Vorbild, nachzuahmen und zu erreichen wünsche. – Es giebt sich also die Frage; wie fern und worinn die Schaamhaftigkeit eines Schriftstellers sich äußern solle?
Hr. Klotz antwortet für seinen Epischen Poeten: darinn, daß der Inhalt seines Gedichts sorgfältig ausgewählt, daß wenn in demselben Dinge vorkommen, die nackt gesagt, das Ohr beleidigen, er der Schaamhaftigkeit seiner Leser schone, daß er das κακοφατον, das ist, Ausdrücke, die zweideutig scheinen können, vermeide – man sieht, daß mit diesem Fachwerke noch nichts gesagt ist, daß dahinein erst Realien kommen müssen, ehe man urtheilen könnte. Da fängt Hr. Klotz zum Unglück am unrechten Ende, von κακοφατον, an.2
Das κακοφατον ist nach Quintilians Beschreibung,3 si mala consuetudine in obscoenum intellectum sermo detortus est: und nun sage man, wie es ein Kennzeichen der wahren Schaamhaftigkeit eines Volks? wie es die erste Probe von der Schaamhaftigkeit eines Schriftstellers, eines Poeten, seyn könne? Ein Volk, das in den Gränzen der wahren Schaamhaftigkeit bleibt, wird sich nicht einfallen lassen, diesen und jenen Ausdruck auf einen obscönen Sinn mit den Haaren herbei zu reißen, es wird nicht aus Worten, quae longissime ab obscoenitate absunt, occasionem turpitudinis rapere, es wird nichts vom κακοφατον wissen. So z.E. die biblischen Dichter in ihren Zeiten der unschuldigen Einfalt: so die allen Griechen; so, nach den Beispielen eben des Quintilians, die alten Römer. Ihr Sallustius dachte daran nicht, daß eine spätere üppige Zeit sein ductare exercitus und patrare bellum obscön verstehen würde: er sagte es sancte & religiose: er begieng also ein κακοφατον. Wer war nun ehrbarer, der es begieng, ohne daß ers wollte, oder der es zuerst zum κακοφατον machte, der die Bedeutung desselben obscön verdrehete, der den Ausdruck notzüchtigte? Ohne Bedenken, der letzte! und eben das Volk, der Schriftsteller ist der ehrbarste, der von keinem κακοφατον weiß – gerade das Widerspiel, als was Herr Klotz behauptet.
Wie gutherzig ist nun die Bewunderung unsres Schriftstellers, der hinter allen Proben, die Quintilian von den verderbten Witze seiner Zeit, Lüderlichkeiten zu finden, selbst nicht ohne Widerwillen giebt, ausruft: »Tantum in Romanisverecundiae studium! tam diligenter castistis auribus pepercerunt!« – Scilicet! Als wenn deßwegen die Französische Nation und Sprache die züchtigste Matrone wäre, weil sie einen Ueberfluß solcher Anständigkeiten hat, daß, wenn nicht jeder Ausdruck sehr sorgfältig, und nach der neuesten Modebedeutung gewählt würde, der ehrbarste, ernsthafteste Mensch jeden Augenblick in die Verlegenheit kommt, eine Gesellschaft Zweideutigkeitenkrämer lachen zu machen! Als wenn sich diese Sprache an Zucht und Ehrbarkeit so hoch heraufgeschwungen, als jetzt ein junger Witzling nach der Mode keinen ihrer alten Schriftsteller mehr, ohne Lächeln und Verlachen, ohne hundert anstößige und niedrige Ausdrücke zu finden, lesen kann! O die züchtige Nation! die züchtige Sprache! Tantum fuit in Gallis verecundiae studium! tam diligenter castis auribus pepercerunt! wird einst ein künftiger Klotz des neunzehnten Jahrhunderts sagen können.
Ich will den Unterschied ins Licht setzen. Zur Zeit einer einfältigen Unschuld hat jede Sache, die genannt werden soll, einen Namen, und das ist ihr Name. Darf die Sache nicht genannt werden: gut! so wird von selbst der Name auch nicht genannt werden; muß jene, warum nicht auch dieser? Michaelis, dieser Philolog von sehr richtigem Gefühle, hat Stellen aus Morgenländern angeführt, aus denen ihre Freiheit in Liebesausdrücken erhellet; er hat aber nicht den Urteilsspruch über sie gefället, daß sie deßwegen Leute ohne Ehrbarkeit und Schaam wären: denn bei ihnen waren einmal solche Redarten, Gleichnisse, Worte, insonderheit in der Sprache des Affekts, des Zorns, der Eifersucht nichts Schändliches. Schlimm gnug! wird man sagen; meinetwegen! schlimm gnug! aber wenn eine solche freie Offenheit keinen weitem Nutzen hätte, so wäre es der, daß neben ihr keine seine Zweideutigkeiten in der Sprache statt fänden. Wie sollte ein Volk schmeichelnde Feinde, verlarvte Freunde, listige Diebe brauchen, das sich aus einem Raube, aus Gewaltthätigkeit nichts machet? und wie sollte eine Sprache ein geheimes feines κακοφατον sorgfältig zu verhüten haben, da es kein offenbares κακοφατον hat, da es in den Schranken seiner Naturbedürfnisse jedes nennet, was es nennen muß; und nichts weiter nennen will? Wer wird mehr verstehen wollen, als was der andre sagt; er hätte ja, wenn dieser mehr hätte sagen wollen, es gerade aus gesagt!
Es versteht sich, daß ein solcher Zeitpunkt der offnen Natursprache Freiheiten haben müsse, die eine spätere Zeit »Unanständigkeiten« nennen kann. Sie nenne sie so; nur sie nenne sie nicht so in ältern unverholnern Zeiten, wo man von der Regelnschaam des Dekorum noch nicht so viel wußte. Ich bleibe bei einem mißbrauchten Beispiele meines Autors. Er vergleicht Homer und Virgil in Ansehung des Anständigen; und wie anders, wenn er aus seinem Kopf urtheilen wollte, als daß er für diesen sprechen mußte.4
Ihm gefällt in Homer der Liebesantrag nicht, den Paris an seine Helena thut; und mir, wenn ich eine Iliade schreiben sollte, mißfällt die Stelle so wenig, daß ich dem Griechen die unschuldige Einfalt seiner Zeit beneide. Als ein feiger Flüchtling ist Paris dem Zweikampf entronnen: unrühmlich ward er unsichtbar: seine Beschützerin Venus mußte ihn den Händen seines streitbaren Gegners, Menelaus, entnehmen. Nicht gnug! sie muß ihm für seine Stunde der feigen Angst im Zweigefechte so gleich auch eine Stunde der Erholung in den Armen der Helena schenken: Helena muß sich zu einer so ungelegnen Zeit zu einer Schäferstunde mit dem bequemen, der sie ihrem rechtmäßigen Gemahl entwandt, und jetzt der Tapferkeit desselben nicht hatte Stand halten können, den sie in Absicht auf männliche Streitbarkeit verachten mußte. Ein solcher macht ihr jetzt den Liebesantrag – wie charakteristisch! wie malend!5 – Der wohllüstige Ehebrecher steht uns vor Augen, der Menelaus sein schönes Weib entwenden, der aus dem Zweikampfe unrühmlich fliehen, der sogleich wieder in den Armen der Helena seinen Ort suchen konnte – das ist Paris! Wir lassen den weichlichen Diener der Venus in den Armen der geraubten Gattin, und kehren mit Verachtung seiner zu der Armee zurück, wo man ihn sucht, und nicht findet! wo Menelaus wohl nicht glaubt, daß er da sei, wo er ist. Homer schließt seinen Gesang.
Wenn Homer für unsre Zeiten gesungen; freilich! so hätte er sich aus dem anständigen: non probo! eines ehrbaren Kunstrichters, was machen, oder nicht machen sollen; was geht es mich an? Aber jetzt, zu seiner Zeit auf eine so simple unschuldige Art, als ers erzählet: nein! da finde ich keine Spur vom Anstößigen, Unehrbaren, Schaamlosen: nichts, was die Ehrbarkeit seiner Zuhörer verletzt, und die Wangen seiner Epischen Muse mit Schaamröthe färben darf: nichts, als einen sehr charakterisirenden