Onettis Santa María(s): Machträumliche Spannungsfelder zwischen biologischer Reproduktion und künstlerischer Produktion. Johanna Vocht

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Onettis Santa María(s): Machträumliche Spannungsfelder zwischen biologischer Reproduktion und künstlerischer Produktion - Johanna Vocht Orbis Romanicus

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die vorliegende Arbeit ist dieser Aufsatz jedoch insofern von großem Interesse, als Martínez die männliche Dominanz durch das Konzept des homosozialen Raumes nicht nur diskursiv, sondern auch auf der Ebene der histoire, in physischen Räumen innerhalb der Erzählungen verortet. Sie zeigt auf, in welchem Umfang Frauen in Onettis Texten bereits dadurch, dass sich Handlung überwiegend in homosozial geprägten Settings (wie etwa Bar oder Nachtclub) vollzieht, aus dem Diskurs ausgeschlossen werden. An Martínez anschließend, stellt sich für die Textanalyse in Kapitel 5 dieser Arbeit die Frage: Welche Räume bleiben den Frauen in Onettis Texten überhaupt, um aktiv zu handeln – zumal innerhalb eines Diskursraums, der durch den männlich-konstituierenden Blick der fiktiven Autorfigur Brausen erschaffen wurde und der kontinuierlich von männlichen Stimmen weitererzählt wird?51

      Während Ludmer, Maloof, Martínez und Millington in ihren Untersuchungen die diskursive Überlegenheit von Männern gegenüber Frauen betonen, dekonstruieren Christopher F. Laferl, Roberto Echavarren, Sonia Mattalia und Teresa Porzecanski diese männliche Suprematie in ihren genderkritischen und queeren Interpretationsansätzen. Echavarren nimmt in seinem Aufsatz „Andrógino Onetti“ (2007) die Unbestimmtheit und Brüchigkeit von Geschlechterkonstruktionen bei Onetti in den Blick.52 Laferl untersucht in seinem Beitrag „Männer interessieren sich für Männer” (2019) die Körperlichkeit und homoerotische Anziehungskraft dreier peripherer Männerfiguren, d.h. er betrachtet homosoziale Subjekt-Objekt-Abhängigkeiten: Erstens die zwischen dem jungen Protagonisten Bob und dem namenlosen männlichen Erzähler in der Kurzgeschichte „Bienvenido, Bob“ (1944), zweitens die zwischen dem schwerkranken ehemaligen Spitzensportler und dem Besitzer des Krämerladens in Los adioses (1954) und drittens die Abhängigkeit zwischen dem abgehalfterten Ringer Jacob van Oppen und seinem Manager Orsini in Jacob y el otro (1959). Laferl gelangt zu dem Schluss, dass Onetti in seinen Texten Konzepte hegemonialer Männlichkeit durch eine „Erosion von Männlichkeit“ dezentriert und damit patriarchale Strukturen dekonstruiert.53

      Eine explizit feministische Perspektive nimmt Sonia Mattalia in ihrer Monographie Una ética de la angustia (2012) ein. Ihre Studie bildet damit für die vorliegende Arbeit einen wichtigen Anknüpfungspunkt in Bezug auf die Analyse weiblicher Handlungsmacht in Onettis Texten. Allerdings behandelt Mattalia drei Kurzgeschichten, die keine Verknüpfung zu Santa María aufweisen und wählt einen tiefenpsychologischen Interpretationsansatz: Ausgehend von der Freud‘schen Kernfrage „qué quiere la mujer“54, fokussiert sie weibliches Begehren und dessen explizite Artikulation durch aktive Frauenfiguren, wie etwa die namenlose Protagonistin der Kurzgeschichte „Un sueño realizado“ (1941), Gracia in „El infierno tan temido“ (1957) oder Kirsten in „Esbjerg en la costa“ (1946). In Mattalias tiefenpsychologischer Lesart ruft das artikulierte weibliche Begehren auf Seiten der männlichen Protagonisten Langman („Un sueño realizado“, 1941) und Risso („El infierno tan temido“, 1957) Unverständnis und Unsicherheit hervor. Während die besagten Protagonisten ohnmächtige Statisten bleiben, handeln die aktiven Frauenfiguren frei und selbstbestimmt. Die männlichen Figuren agieren in dieser Lesart passiv oder werden, wie Teresa Porzecanski auch mit Rückgriff auf Jean-Paul Sartre formuliert, zu einem „proyecto en construcción“55. Am Beispiel Baldis, des Protagonisten der gleichnamigen Kurzgeschichte „El posible Baldi“ (1936), arbeitet Porzecanski eine ‚tragische‘, da von unlösbarer Konfliktivität behaftete Männlichkeit in Onettis Texten heraus. Die größte Problematik der männlichen Identitätssuche liegt laut Porzecanski darin, dass ‚der Mann‘ vom Sartre‘schen Diktum, zur Freiheit und damit zur ständigen (Neu)erfindung seiner selbst verdammt zu sein, innerlich zerrissen wird und letztlich in einer unauflösbaren Diskrepanz zwischen Eigen- und Fremdwahrnehmung verharrt. Porzecanski folgt in ihrer Untersuchung der essentialistischen Argumentationslinie der französischen Philosophin und Feministin Elisabeth Badinter. In ihrer Monographie Die Identität des Mannes (1997 [1992 franz.]) stellt Badinter Männlichkeit56 im 20. Jahrhundert als konfliktives und in letzter Konsequenz defizitäres Konstrukt dar. In Porzecanskis Lesart sind Baldis Identitätsentwürfe demnach grundsätzlich an die affektive Empathie ‚der Frau‘ gebunden.57

      Die bislang umfassendste Werkstudie zu Onetti, La fundación imaginada (2011) stammt jedoch von Ferro, auf dessen Ansatz, Onettis gesamtes Erzählwerk als único texto zu lesen, bereits eingegangen wurde. Mit seiner strukturalistischen Interpretation im Anschluss an die Arbeiten von Ludmer (2009 [1977]), Millington (1985), und Martínez (1992) schreibt Ferro damit dezidiert gegen einen Forschungsdiskurs an, der das Düstere und Nihilistische in Onettis Werk als dessen entscheidende Merkmale herausstellte, es vorrangig existentialistisch las, und verwehrt sich damit auch gegen den oft gestellten Anspruch, einen stringenten, linearen Sinnzusammenhang zwischen Onettis Texten herzustellen.58 Stattdessen plädiert Ferro für eine offene, Fragmentarität und Brüche zulassende (wenn nicht gar kalkulierende) Lektüre:

      Considero necesario, en este punto, hacer explícita una toma de distancia con cierta dirección de la crítica, bastante extendida y hasta institucionalizada, que lee la trama de las remisiones intertextuales como una garantía de la certeza de que la obra onettiana estaría construida bajo el signo del deterioro, que Onetti, con una tenacidad casi abusiva, reescribiría insistentemente la misma historia con algunas variaciones: fracaso, vidas desgraciadas, droga, prostitución, miseria moral.59

      Ferro verwehrt sich in seiner Analyse gegen eine Lesart, die Onettis Texte als schematische Wiederholungen einer einzigen Geschichte begreift, die allein in der Fokussierung spezifischer Motive wie Scheitern, Drogen, Prostitution etc. variieren. Auf Ferros stattdessen vorgeschlagene Lesart, die Gesamtheit der Onetti’schen Romane und Kurzgeschichten als ein einziges, zusammenhängendes Textkonglomerat zu fassen, wurde bereits auf den ersten Seiten dieser Arbeit verwiesen. Dass an dieser Stelle noch einmal explizit Ferros ‚Ein-Text-Postulat‘ aufgerufen wird, soll die Relevanz dieser philologischen Perspektive für diese Arbeit, verbunden auch mit einer Abgrenzung zum bis dato dominierenden Forschungsdiskurs verdeutlichen. So wird Santa María erst durch Ferros Zugang als metafiktionale Raumfigur in Abhängigkeit zum rioplatensischen Metropolenbild präsanmarianischer Texte lesbar. Anders formuliert heißt das, Santa María wird im Text zuverlässig durch direkte Anspielungen auf Buenos Aires und Montevideo oder (im Laufe des Spätwerks indirekter werdende) Referentialisierung auf eine unbenannte Kapitale konstruiert. Bei der Untersuchung des Textraums Santa María ist es demnach hilfreich, sich auch mit der diskursiven Darstellung der Metropolen Buenos Aires und Montevideo in La vida breve (1950) vorgängigen Texten auseinanderzusetzen. Denn obschon sich das gewählte Textkorpus auf Santa María-Texte beschränkt, bleibt die lateinamerikanische Metropole (exemplarisch dargestellt an Montevideo und Buenos Aires) über weite Strecken ein wichtiger Referenzpunkt für die Konstruktion des imaginären Santa María. Sprich: Das Großstadtbild, das die frühen Texte Onettis vermitteln, ist für diese Arbeit insofern von entscheidender Bedeutung, als die Erfindung Santa Marías sowohl auf diskursiver als auch auf diegetischer Ebene auf den Großstadt-Darstellungen vorangegangener Erzählungen aufbaut.60 So wird in La vida breve (1950) selbst die großstädtische Unübersichtlichkeit und Anonymität und damit einhergehend das Gefühl der Entfremdung, unter dem der fiktive Autor Brausen leidet, und das ihn letzten Endes auch zur Erfindung eines metafiktiven Gegenortes inspiriert, nur marginal oder wie Millington konstatiert, vermittels narrativer Leerstellen dargestellt.61 Diskursiv handelt es sich um räumliche Spiegelungen, welche Santa María als idyllischen Gegenort zu Buenos Aires/Montevideo konstruieren, inhaltlich um die Abkehr des Protagonisten von den Zumutungen der Großstadt und einer damit verbunden Flucht in eine vermeintliche Kleinstadtidylle.

      Die mimetisch-dystopische Metropolendarstellung in Onettis frühen Romanen und Kurzgeschichten wird in der Forschung oft mit dem Werk Roberto Arlts, dem Pionier des rioplatensischen Stadtromans, verglichen. Das ‚literarische Erbe‘, das Onetti von Arlt übernimmt, besteht demnach vornehmlich in der negativ konnotierten Darstellung der Großstadt als Ort der Feindseligkeit und Selbstentfremdung des modernen Individuums.62 In seiner Romantrilogie El juguete rabioso (1926), Los siete locos (1929) und Los lanzallamas (1931) entwirft Arlt die Großstadt (Buenos Aires) als Strudel, wie Rosalba Campra mit Bezug auf ein eigentlich konträres Konstrukt feststellt. So bezog sich dieser Begriff

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