Onettis Santa María(s): Machträumliche Spannungsfelder zwischen biologischer Reproduktion und künstlerischer Produktion. Johanna Vocht

Чтение книги онлайн.

Читать онлайн книгу Onettis Santa María(s): Machträumliche Spannungsfelder zwischen biologischer Reproduktion und künstlerischer Produktion - Johanna Vocht страница 8

Onettis Santa María(s): Machträumliche Spannungsfelder zwischen biologischer Reproduktion und künstlerischer Produktion - Johanna Vocht Orbis Romanicus

Скачать книгу

in der es dem Einzelnen nicht gelingt, ein persönliches Profil zu entfalten. Die wesentlichen Kennzeichen dieser Gruppe von Personen, die Onetti in seinem Roman vorstellt, sind Einsamkeit und Gleichgültigkeit. Er entwirft in ihnen eine indifferente Generation, die sich ihrem Schicksal machtlos ausgeliefert sieht.78

      Die Entfremdung des modernen Individuums, die Mahlendorff paradigmatisch mit einem Ausspruch Diego Aránzurus79, einem der Protagonisten des Romans Tierra de nadie (1941), belegt, verweist auf das gestörte Verhältnis des vereinsamten Großstädters zu seinen kulturellen Ursprüngen. Ungelöste Identitätskonflikte, die sich in einem Hin- und Hergeworfen-Sein „zwischen Metropole und gran aldea auf der Suche nach dem eigenen Profil“80 artikulieren, dominieren die bruchstückhaften Figuren-Dia- und Monologe, aus denen sich Tierra de nadie (1941) zusammensetzt. Laut Mahlendorff eint alle Figuren das Gefühl persönlicher Schuld und persönlichen Scheiterns. Eine alles umspannende Langeweile beherrsche die gesamte Romanhandlung. Die Stadt werde nicht nur als identitätslos, sondern auch als Gefängnis wahrgenommen, dem es zu entfliehen gelte. „Die Überforderung angesichts einer chaotischen Welt“, so resümiert Mahlendorff die Verfasstheit der Figuren, „macht den Menschen entscheidungs- und handlungsunfähig. Einzige Fluchtburg bleibt die Welt der Imagination.“81 In diesem Sinne deutet Mahlendorff Aránzuru als „Urform Brausens“ und damit als intertextuelle Verbindung zwischen Tierra de nadie (1941) und La vida breve (1950):82

      –En fin … Me voy a dedicar a inventarte. ¿Me entendés? Imaginar quién sos. Pensá un poco. Todos estos días juntos, piel con piel. Pero cada uno está preso en sí mismo y … Todo el resto es ilusión. (TN 221).

      Das laut Mahlendorff zweite offensichtliche Bindeglied zwischen Tierra de nadie (1941) und La vida breve (1950) bildet der Fluss, denn während „el río sucio, quieto, endurecido“ (TN 228) den Text Tierra de nadie (1941) beschließt, bildet der Fluss in La vida breve (1950) eine erste topographische Referenz für die Situierung Santa Marías. Das entsprechende Kapitel ist mit „Díaz Grey, la ciudad y el río“ (VB 428) überschrieben.

      Mahlendorffs Analyse von La vida breve (1950) konzentriert sich auf drei Raummodelle. Sie unterscheidet den „Raum des Alltäglichen“, den „Raum des Nebenan“ und den „Raum der Imagination“ voneinander.83 Der erste Raum verweist auf Juan María Brausens Wohnung in Buenos Aires, die er zusammen mit seiner Ehefrau Gertrudis bewohnt. Den zweiten Raum bildet demnach die symmetrisch gespiegelte Nachbarwohnung der Prostituierten Queca. Santa María, als der Raum der Imagination verstanden, konstituiert „die dritte räumliche Einheit, in der sich das Erzählen vollzieht. Im Vergleich zu den anderen beiden Räumen ist er nicht mehr in der konkreten Geographie Lateinamerikas verortet, sondern beschreibt sozusagen selbst einen Bereich imaginärer Geographie der Neuen Welt.“84 Mahlendorff liest Santa María zudem als „Ort der Erlösung“85, dessen geographischer Mittelpunkt in dem Reiterstandbild Díaz Greys zusammenläuft. Die Erlösung besteht vornehmlich darin, dass sie den Protagonisten Brausen von seiner aufreibenden Identitätsproblematik befreit. In Santa María kann er endlich sein, was er will. Identitäten werden nicht sozial oder gesellschaftlich festgeschrieben, sie sind wandelbar. Hier sieht Mahlendorff auch eine Verbindung zur Existenzphilosophie Martin Heideggers und Jean-Paul Sartres, die postuliert, es obliege jedem Menschen selbst, sich täglich neu zu erfinden:

      Onettis Werk erscheint als eine literarische Illustration der Existenzphilosophie Heideggers und Sartres, die darin die absolute Freiheit des Menschen sahen, daß [sic] er nicht an eine vorherbestimmte Form des Daseins gebunden ist, sondern sein Leben auf eine Existenz hin entwirft.86

      Diesen Grundgedanken existentialistischer Selbstverantwortlichkeit verknüpft Mahlendorff mit dem Begriff der Ambiguität sowie dem titelgebenden Leitmotiv des kurzen Lebens. Sie konstatiert, dass Brausens Rettung in der Möglichkeit bestehe, kraft der eigenen Imagination mehrere Identitäten, die wiederum an mehrere kurze Leben gebunden seien, für sich zu erschaffen. Jeder dieser Identitäten wird in Mahlendorffs Lesart ein eigener Raum zugeschrieben.

      Diese Arbeit übernimmt die Begrifflichkeiten Mahlendorffs mit oben beschriebenen theoretischen Implikationen. Um die Provenienz der Termini kenntlich zu machen, werden sie in der Textanalyse kursiv verwendet.

      2 Grundlegende theoretische Implikationen zur Verknüpfung von Raum, Macht und Gender

      You could see your own house

      as a tiny fleck on an ever-widening landscape,

      or as the center of it all from which

      the circles expanded into the infinite unknown.

      It is that question of feeling at the center

      that gnaws at me now.

      At the center of what?

      WE ARE HERE BECAUSE YOU WHERE THERE.87

      Adrienne Rich (1984)

      Ende der 1960er Jahre proklamierte Michel Foucault ein ‚Zeitalter des Raumes‘: „Wir leben im Zeitalter der Gleichzeitigkeit, des Aneinanderreihens, des Nahen und Fernen, des Nebeneinander und des Zerstreuten.“88 Und weiter: „Heute tritt die Lage an die Stelle der Ausdehnung, […]. Die Lage wird bestimmt durch Nachbarschaftsbeziehungen zwischen Punkten oder Elementen […].“89

      Analog dazu lässt sich auch Onettis Gesamtwerk, in der monographischen Lesart Ferros, als ein textliches ‚Neben- und Ineinander‘, als eine Ansammlung stark selbstbezüglicher Äußerungen, Motive, Semantiken etc. begreifen, die in eine spezifisch Onetti’sche Poetologie mündet. Weiter verstärkt wird diese räumlich ausgerichtete Ordnung durch die raumbasierten Figuren der Repetition, Metonymie, Fragmentierung oder Ellipse. Die fragmentierende Beschreibung wird in Onettis Texten vor allem an einer Deplatzierung von Objekten sichtbar. Durch grammatikalische Bedeutungsverschiebungen erscheinen Gefühle, Wahrnehmungen, Gesten oder Mimik im Wortsinne ‚wesentlich‘ und vom Körper abgekoppelt. Sie werden personifiziert und mit neuer Bedeutung aufgeladen: „[…] me voy levantando, estiro el dolor de las piernas.“ (JC 384). Anstatt der Beine streckt die Person den Schmerz (in den Beinen) aus, d.h. Onetti verschiebt durch die Personifizierung des Schmerzes den Fokus vom Materiellen (Körper) auf die reine Wahrnehmung (Schmerz) und verstärkt diese dadurch. Schmerz (Empfindung) wird vom Körper separiert.90 Besonders häufig wird der Typus der fragmentierenden Beschreibung im Zusammenhang mit der Personifizierung von risa oder sonrisa angewendet: „La risa bailó un solo círculo sobre la mesa.“ (TN 43) Das Lachen wird zu etwas Eigenständigem, in dieser Szene sogar zu einem Produzenten von szenischer (nicht wie zu vermuten, auditiv wahrnehmbarer) Kunst: Das Lachen tanzt. Bei der ersten Begegnung zwischen Junta Larsen und Angélica Inés in El astillero (1961) nimmt Larsen das Lachen der Frau als eine Art Korrespondenz zwischen ihr und dem Raum wahr: „[…][Angélica Inés] reía a sacudidas, con la cara asombrada y atenta, como eliminando la risa, como viéndola separarse de ella, brillante y blanca, excesiva; alejarse y morir en un segundo, derretida, sin manchas ni ecos, sobre el mostrador, sobre los hombros del dueño, entre las telarañas que unían las botellas en el estante.“ (AS 159) Ähnlich einem kubistischen Gemälde dekonstruiert Onetti dabei die Mimik einer Figur und setzt sie in neuer Anordnung, mit neuem Fokus wieder ins Bild. Das Lachen wird in diesem Fall nicht nur auditiv und optisch (als Gesichtsbewegung) wahrgenommen, sondern personifiziert (alejarse y morir). Es scheint sich zu materialisieren (derretida) und vom Körper zu lösen (sobre el mostrador, sobre los hombros del dueño, entre las telarañas). Durch die Figur der Hypallage (brillante y blanca als Charakterisierungen, die eigentlich mit den Zähnen, die sich beim Lachen zeigen, jedoch nicht mit dem Lachen selbst assoziiert werden) findet eine zusätzliche grammatikalische Verschiebung statt: von den Zähnen (die jedoch nicht im Text genannt sind, sondern allein durch die Kombination der beiden Adjektive brillante y blanca

Скачать книгу