Der Zauber des Denkens. Siegfried Reusch
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Eine andere Frage ist die, ob man sich Lebensweltformen vorstellen kann, die diese Verlängerung in die Wissenschaft, in die Welt der Theorien nicht finden oder nicht finden können. Lebensweltformen also, die die europäische Rationalität und Wissenschaft nicht zulassen. Allerdings liegt es mir näher, nicht der Frage nachzugehen, wie die Welt denn auch noch hätte aussehen können, wenn der europäische Geist nicht tätig geworden wäre, sondern mit einer Welt fertig zu werden, in der der europäische Geist tätig ist.
Wäre „Interpretation der Wirklichkeit“ für das, was Sie unter Konstruktivismus verstehen, eine angemessene Umschreibung?
In der Tendenz ja. Andererseits ist mir die Theorie der Interpretation oder wie immer man eine entsprechende Richtung bezeichnen möchte, etwas pointiert formuliert, zu hermeneutisch, soll heißen, noch zu sehr an der Vorstellung orientiert, dass es Dinge, wie sie sind oder wie wir sie sehen, zu verstehen gilt. Für mich suggerieren die Begriffe der Interpretation und des Verstehens einen Zusammenhang, der für die Geisteswissenschaften konstitutiv ist, aber schon für andere wissenschaftliche Bereiche eigentümlich zu kurz greift.
Sie haben von Rationalität gesprochen. Heißt das Begründung von irgendwelchen Aussagen mittels rationaler Verfahren?
Es ist natürlich schwer, in wenigen Worten jetzt so etwas wie Rationalität definieren zu wollen. Man wird mehr oder weniger einschlägige Merkmale benennen wollen, und so möchte ich das auch tun. Ich will als rational oder als eine rationale Position eine solche bezeichnen, die Geltungsansprüche formuliert und deren Einlösung nicht nach außen abgibt. Die Bemühung um Rationalität bedeutet, sehr genau zu unterscheiden, seine Behauptungen sehr genau zu wägen, jederzeit bereit zu sein, die mit diesen Behauptungen formulierten Geltungsansprüche einzulösen, all dies nicht abzugeben an Instanzen, die entweder vorgeben, dies zu leisten, oder von denen man erwartet, dass sie dies leisten. Gegensatz wäre also eine mythische oder fundamentalistische Welt, in der uns entsprechende Bemühungen von überweltlichen Mächten abgenommen werden. Hier vertrete ich die Idee der europäischen Aufklärung.
Die Frage nach der Rationalität ist auch eine Frage nach der Begründung. Wann ist eine wissenschaftliche Begründung wirklich begründet?
Es ist ein Unterschied, ob Sie einen mathematischen Satz begründen oder beweisen, oder ob Sie eine gesellschaftstheoretische Hypothese begründen. Man wird in einem allgemeinen Sinne sagen können, dass wir von „Begründung“ und „begründet“ genau dann sprechen, wenn die offensichtlichen Geltungsansprüche eingelöst sind und keine Alternative aufgetreten ist, die auf eine andere Weise das leistet, was Theorien oder Sätze, die als begründet gelten, leisten. Eine Begründung ist in diesem Sinne auch nie definitiv abgeschlossen im Sinne von letztbegründet. Dies wäre von vornherein dogmatisch. Ich selbst halte nur einen Begründungsanspruch für vertretbar, in dem Exklusivität nicht mitbehauptet wird, Exklusivität in dem Sinne, dass es zu einer gegebenen Begründung keine Alternativen gäbe. Allerdings – und das ist etwas, was immer hinzugefügt werden muss –, das, was dann konkurrierend auftritt, muss mindestens ebenso gut begründet sein und sich als begründet ausweisen können wie der Versuch, gegen den es sich wendet. Mit dem bloßen Hinweis, es gibt ja keine absoluten oder Letztbegründungen, wäre jede Begründung gleich gut – und das ist keine Alternative.
Gibt es demnach auch keine absoluten Normen?
Wenn wir von absoluten Begründungen sprechen, dann meinen wir, ein Sachverhalt sei ein für allemal in einer bestimmten Weise erklärt, der entsprechende Satz oder die entsprechende Theorie begründet, und dazu gäbe es keine Alternativen. Das ist problematisch. Die Rede von absoluten Normen liegt noch einmal auf einer anderen Ebene, allein schon, weil die Rede von Begründungen bei Normen ihre besonderen Schwierigkeiten hat. Aber selbst da, meine ich, sollte man nicht so zimperlich sein. Es ist die Frage, was man als eine absolute Norm bezeichnet. Wenn man den kategorischen Imperativ oder die Menschenrechte als absolute Normen bezeichnet, dann hätte ich nichts gegen den Begriff der absoluten Norm. Die Bezeichnung „absolute Norm“ wird nur dann problematisch, wenn damit Inhaltliches gemeint ist. Solange wir es mit formalen Normen zu tun haben, und das ist ja beim kategorischen Imperativ der Fall, bringt uns auch die Bezeichnung „absolut“ in keine Schwierigkeiten.
Aber den Europäern wird doch vorgeworfen, dass gerade in den „Menschenrechten“ Werte schon implizit enthalten sind.
Das ist wahr. Insofern habe ich auch ein wenig gezögert, als ich dieses zweite Beispiel nannte. Es kommt sehr darauf an, was man mit Menschenrechten alles meint. Wenn das bis in den pädagogisch-schulischen Bereich geht, etwa im Sinne von Recht auf Bildung, Recht auf Erziehung, nein. Wenn Sie die Rede von Menschenrechten aber zunächst einmal einschränken, etwa auf den Begriff der autonomen Person, dann meine ich, sind auch solche Einsprüche leicht zu ertragen.
Dies ist natürlich abhängig vom Menschenbild.
Naja, aber sehen Sie, wollen wir wieder ein Menschenbild zur Diskussion stellen, das es dem Einzelnen überlässt, sich in der Alternative von Herr und Knecht zu orientieren? Ich möchte das nicht empfehlen.
Letztlich gelangt man immer wieder bei ethischen Glaubenssätzen an, die wiederum einer Begründung bedürfen.
Sie haben Philosophie einmal als „Theorie der Begründung“ bezeichnet. Erschöpft sich Philosophie in der Aufgabe der Rechtfertigung von Zwecken und Zielen – oder wird „in Form von Wissenschaftstheorie Wissenschaft philosophisch und Philosophie wissenschaftlich“?
Das war damals der Konstruktivismus auf die Spitze getrieben. Ich erinnere mich sehr wohl an diese Formulierung. Da habe ich, was ich gerne auch heute noch tue, bewusst pointiert formuliert. Mittlerweile glaube ich – vielleicht ist das jetzt mein höheres Alter, das mich dazu führt –, dass sich die Philosophie in solchen Definitionen und näheren Bestimmungen nicht erschöpft. So würde ich es denn auch heute wahrscheinlich nicht mehr sagen. Allerdings: An einem möchte ich gerne festhalten – und das besagt ja auch das Zitat, das Sie eben anführten: Ich sähe es gerne, wenn die akademische Philosophie an der Universität wieder näher an die Probleme auch der anderen Disziplinen herangerückt würde und wenn die anderen Disziplinen, die bisher sozusagen einen gepflegten Positivismus ausgebildet haben, wieder philosophischer würden. Denn ihre weitgehende Wirkungslosigkeit hat die Philosophie zum Teil selbst zu vertreten, insofern sie sich in eigentümlicher Vornehmheit aus dem Alltag der Wissenschaften und der wissenschaftlichen Auseinandersetzung – nicht immer, aber häufig – herausgezogen hat. Die Philosophie muss sich wieder stärker involvieren lassen oder sich stärker einmischen in das Alltagsgeschäft der Universität, der Wissenschaft, ja, und auch der Gesellschaft.
Ist es denn nicht gerade das Gegenteil von Einmischung, wenn Sie in einer Diskussion auf die Frage, ob wir es nicht nach Goethe so halten sollten, dass wir das Erforschliche erforschen und – aus ethischen Gründen – das Unerforschliche unerforscht lassen sollten, antworteten, dass, wer nicht das Unerforschliche zumindest probiere, beim Erforschlichen Durchschnitt bleibe?