Herausforderungen der Wirtschaftspolitik. Dirk Linowski
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Aus dem Baltikum und weiten Teilen Südosteuropas gehen nicht nur viele junge und gut ausgebildete Menschen fort, eine positive Rückkopplung kann wegen der niedrigen Geburtenraten (s.o.) allerdings nur sehr eingeschränkt erfolgen, was mittelfristig wiederum Folgen für die staatliche Funktionsfähigkeit haben muss.
Spätestens dann, wenn Sie sich in einem (ost-)deutschen Provinzkrankenhaus behandeln lassen, werden Sie feststellen, dass viele Ärzte aus Osteuropa, wo sie ausgebildet wurden, kommen und demzufolge dort fehlen müssen. Ebenso stellen sich Fragen, warum durch die empörungserfahrene deutsche Gesellschaft kein Aufschrei geht, wenn Vertreter deutscher Kommunen und Unternehmen seit über einem Jahrzehnt in Osteuropa wie in Südwesteuropa insbesondere junge Frauen als Alten- und Krankenpfleger anzuwerben versuchen und warum in Deutschland angeblich oder tatsächlich die Ernte ohne „Erntehelfer“ aus Osteuropa verrottet und warum in den Schlachthöfen Deutschlands fast nur Ausländer arbeiten. Die Aufzählung ist nicht vollständig.
Werfen wir nun einen Blick auf die absoluten und prozentualen Ausländerzahlen innerhalb der (erweiterten) Europäischen Union:
Land | Ausländerzahlen in Tausend | Ausländeranteil in % |
Deutschland | 9.219 | 11,2 |
Großbritannien | 6.071 | 9,2 |
Italien | 5.047 | 8,3 |
Frankreich | 4.638 | 6,9 |
Spanien | 4.419 | 9,5 |
Schweiz | 2.099 | 24,9 |
Belgien | 2.099 | 11,9 |
Österreich | 1.333 | 15,1 |
Niederlande | 914 | 5,3 |
Schweden | 841 | 8,2 |
Griechenland | 810 | 7,5 |
Tschechien | 510 | 4,8 |
Portugal | 397 | 3,9 |
Lettland | 279 | 14,3 |
Luxemburg | 281 | 47,6 |
Tab. 2.3:
Ausländer in Europa (Stand Februar 2020; Quelle: Statistisches Bundesamt[26])
Tabelle 2.3 zeigt sehr hohe Ausländeranteile in der Schweiz und Luxemburg (das aufgrund seiner geringen Bevölkerungszahl als Sitz diverser EU-Institutionen eine Sonderrolle einnimmt) an, während ihre Pendants in den Niederlanden und in FrankreichFrankreich deutlich niedriger sind. Deutschland liegt mit 11,2% (nach 8,7% im Jahre 2016) Ausländern bei dieser Betrachtungsweise im oberen Mittelfeld. Lettland stellt mit einer starken russischen Minderheit einen Sonderfall dar, der hauptsächlich auf die euphemistisch so genannte Stalinsche Nationalitätenpolitik zurückgeht.
Eine monokausale Argumentation würde hier fast unweigerlich zu dem Schluss führen, dass viel Migration gut für die Harmonie einer Gesellschaft ist, eine Aussage, der vermutlich nur die wenigsten unter uns vorbehaltlos zustimmen würden. Tatsächlich sind die Migranten in den kleinen Ländern Schweiz und Luxemburg zumeist hoch qualifiziert und sie akzeptieren in ihrer überwiegenden Mehrzahl das Wertesystem ihres Empfängerlands.
Neben statistischen Unterschieden bei der Registrierung oder Einstufung von Einwanderern (s.o.) bezüglich ihrer Verweildauer im Aufnahmeland spielt die Einbürgerungspolitik der betreffenden Staaten eine zentrale Rolle, um direkte Schlussfolgerungen zu ziehen oder diese zu unterlassen.
Ausländer sind juristisch per definitionem Personen, die über einen anderen Pass als den des Wohn- und zumeist Arbeitsorts verfügen. So werden z.B. in Großbritannien, Frankreich (hier auch fast jedes Kind, das in Frankreich geboren wurde, unabhängig vom Status der Eltern) und den Niederlanden zahlreiche Menschen, die aus ehemaligen Kolonien stammen, als Inländer klassifiziert, obwohl ein substanzieller Teil von ihnen die „Hauptkultur“ des Empfängerlandes nicht oder nur teilweise akzeptiert.
Der statistische Anteil der Ausländer in der Schweiz war 2019 hingegen mit 24,9% formal fünf- bzw. viermal so hoch wie in den Niederlanden oder Frankreich und mehr als doppelt so hoch wie in Deutschland, das Durchschnittseinkommen jedoch deutlich höher als in den drei genannten größeren Ländern.
Als Zwischenfazit können wir festhalten, dass uns prozentuale Angaben zu Ausländern innerhalb einer Bevölkerung isoliert betrachtet nicht weiterbringen.
2.4.1 Zu- und Abwanderung
In der öffentlichen Debatte wird oft der Eindruck vermittelt, dass Deutschland „schlecht tauscht“; dass also vor allem Hochqualifizierte das Land verlassen, während Geringqualifizierte zu uns kommen. In der Tat ist seit vielen Jahren ein stetiger Abfluss von Spitzenforschern in die USA sowie eine Abwanderung von Ärzten nach Skandinavien und in die Schweiz (und vor dem Brexit-Referendum auch nach Großbritannien) zu beobachten. Deutschland zieht allerdings wiederum Ärzte, aber auch zahlreiche Ingenieure und weitere nicht nur Geringqualifizierte, nicht nur aus Osteuropa an.
Abb. 2.4 vermittelt eine Vorstellung über Zu- und Fortzüge und den korrespondierenden Migrationsüberschuss, der die Bevölkerung in Deutschland seit vielen Jahren über der Grenze von 80 Millionen hält. (Nach dem Zusammenbruch der SowjetunionSowjetunion kamen allein insgesamt etwa 2 Millionen sogenannte Russlanddeutsche in die Bundesrepublik Deutschland.)1
Wanderungssaldo von Ausländern für Deutschland (Quelle: Demografie-Portal[27])
Auch hier handelt es sich wiederum um Stichtagsbetrachtungen, die regionale Besonderheiten außer Acht lassen. Die Betrachtung ändert sich indes, wenn nach dem Migrationshintergrund gefragt wird. Die nächste Frage lautet also, woher die Ausländer in Deutschland kommen.
Ausländer in Deutschland (Quelle: Statistisches Bundesamt[28])