Transasia. Von Karachi nach Beijing. Ludwig Witzani
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Von diesen Beispielen unterscheidet sich die Induskultur nur in ihrer geschichtlichen Frühe und Ausdehnung, denn neben der ägyptischen und sumerischen Kultur repräsentiert die Indus-Kultur eines der erstaunlichsten Beispiele geschichtlichen Erwachens. In der Morgenröte der Weltgeschichte waren die Träger der Induskultur plötzlich „da“, ohne dass wir wissen, woher sie kamen. Über tausend Jahre lang lebten sie in Städten, die wie Mohenjo Daro oder Harappa, die zu den größten ihrer Zeit gehörten.
Dann war ihre Zeit plötzlich abgelaufen. Mohenjo Daro, Harappa und die über das ganze heutige Pakistan und Teile Westindiens verstreuten Städten schrumpften und wurden von ihren Einwohnern verlassen. Zertrümmerte Wehrmauern, Skelette mit den unverkennbaren Zeichen plötzlichen Todes erzählen von dunklen Jahrhunderten des Niedergangs - ehe mit der Einwanderung der Indoarier ein ganz neues Kapitel in in der Geschichte des indischen Subkontinents aufgeschlagen wurde.
Die Induskultur wurde „vergessen“, die Ruinen ihrer Städte überbaut, bis über dreieinhalbtausend Jahre später indische und britische Archäologen am Beginn des 20. Jahrhunderts im Sindh und im Punjab unglaubliche Mengen Ziegelsteine fanden, die nur einen Schluss zuließen; dass sie das Substrat großer Städte gewesen waren, von denen man rein gar nichts wusste. Spatenstich für Spatenstich enthüllte sich der staunenden Fachwelt die dritte Primärzivilisation der Menschheitsgeschichte, die Induskultur, deren größte Stadt Mohenjo Daro gewesen war. Dieses Mohenjo Daro, eine der ältesten Städte der Weltgeschichte, wollte ich sehen.
Zwei Möglichkeiten gab es, um von Karachi aus nach Mohenjo Daro zu gelangen, eine robuste und eine schlappe Variante. Die erste, robuste Möglichkeit bestand darin, wieder den Salwar Qamiz anzuziehen, mit dem Bus nach Hyderabad und Sukkur zu fahren und kurz vor Lakarna auszusteigen. Allein für die Anreise über diese etwa vierhundert Kilometer lange Strecke hätte ich einen ganzen Tag veranschlagen müssen. Die zweite, glatt geschmirgelte Möglichkeit war unkomplizierter. Man konnte täglich mit kleinen Maschinen der pakistanischen Fluggesellschaft PIA (Pakistan International Airlines) Mohenjo Daro anfliegen, die Ruinenstädte in der unmittelbaren Nachbarschaft des kleinen Flughafens in aller Ruhe besichtigen, um dann am späten Nachmittag wieder nach Karachi zurückzufliegen. Zu meiner Schande muss ich gestehen, dass ich mich für die glatt geschmirgelte Möglichkeit entschied, und das, obwohl die PIA schon seit Jahren in der absoluten Spitzengruppe jener Fluggesellschaften rangierte, deren Flieger regelmäßig vom Himmel stürzten. Herr Ibrahim gratulierte mir zu meiner Entscheidung und schickte einen seiner Mitarbeiter ins Reisebüro, der mir ein Flugticket nach Mohenjo Daro besorgte.
Die Maschine, die ich am frühen Morgen des nächsten Tages bestieg, war eine kleine Fokker, deren Sitze bei weitem nicht ausgebucht waren. Die meisten Passagiere würden nach Multan weiterfliegen, während ich wahrscheinlich der einzige Fluggast war, der zu den Ruinen in der Wüste wollte. Die Fokker schwankte beträchtlich und hatte für mein Empfinden erhebliche Schlagseite in Fahrtrichtung. Soweit ich durch die verschmierten Fensterscheiben erkennen konnte, überflog die Fokker eine staubige, tote Landschaft mit einem spärlichen Rinnsal in der Mitte, dem Indus. Ich notierte: Der Sindh macht auch von oben keinen besonders einladenden Eindruck.
Mit einem kräftigen Bums setzte die Fokker nach etwa einer Stunde Flugzeit auf dem kleinen Rollfeld von Mohenjo Daro auf. Zweierlei empfing mich, als ich das Flugzeug verließ: eine Hitzewelle wie ein Schlag in den Nacken und eine Soldateneskorte, die mich die zweihundert Meter vom Rollfeld zum Terminal geleitete. Schon auf den ersten Blick war erkennbar, dass hier alles zusammenpasste: Flughafen, Museum und Ruinenfeld waren fußläufig zu erreichen. Hinter dem Rollfeld vollzog sich das das dörfliche Leben, als gehöre es zu einem anderen Stern. Frauen trieben mit langen Stöcken ihre trägen Rinder zum Indus, Kinder spielten im Sand und riefen „Mister“, „Mister“, als sie mich entdeckten.
Das unmittelbar benachbarte kleine Museum von Mohenjo Daro war eine Insel der Zivilisation inmitten von Hitze und Staub und in seiner Konzeption auf allerhöchste Bedeutsamkeit getrimmt. In seinem Innenhof informierten Skulpturen und Schrifttafeln darüber, welche Potentaten und Dynasten dieses Museum bereits besucht hatten, Ein Elefanten- und ein Bullenrefief verzierten den Museumseingang, in dem mich ein junger Mann mit Schlafzimmeraugen empfing und mir seine Dienste als Reiseführer anbot. Da er kein Wort Englisch sprach, lehne ich ab, was ihn aber nicht daran hinderte, mir hinterherzulaufen und mich in Urdu zuzutexten. Immerhin führte er mich in einen separaten Raum, in dem ein Film mit englischen Untertiteln gezeigt wurde. Er besaß eine pompöse musikalische Untermalung, zeigte viel Ruinenästhetik und bezeichnete die Induskultur neben Ägyptern und Mesopotamien als „die dritte Zivilisation”.
Inwiefern war dieser hohe Ton berechtigt, mochte man fragen. Und was unterschied überhaupt die Mitglieder dieser „drei Zivilisationen” an Nil, Euphrat und Indus (als vierte Zivilisation könnte man die frühchinesische Kultur am Gelben Fluss hinzurechnen) von den Menschen in den namenlosen Dörfern im Nirgendwo, die auch schon seit Jahrzehntausenden auf zwei Beinen durch die Gegend liefen? Was genau markierte die Grenze zwischen Memphis, Uruk und Mohenjo Daro und dem Rest der vorgeschichtlichen Welt? Darüber hatte ich schon des Öfteren nachgegrübelt und ohne, dass ich Anspruch auf besondere Kompetenz erhebe, glaube ich, dass dafür folgende Merkmale nötig sind:
(1) eine vergleichsweise hohe landwirtschaftliche Produktivität, die es erlaubt, einen sekundären Bereich, d. h. Spezialisten für Handwerk, Architektur, Religion, Kunst, Kultur, Krieg und Religion freizustellen und zu ernähren,
(2) darauf aufbauend die Entstehung städtischer Zentren, in denen die Spezialisten dieses sekundären Bereiches leben und arbeiten,
(3) die Entwicklung einer Schrift, die es ermöglicht, Kultur zu tradieren und Innovationen festzuhalten, so dass auf einmal gewonnenen Erkenntnissen aufgebaut werden kann,
(4) die Entfaltung eines religiösen Systems von Welterklärungen, die die Gemeinschaft integriert sinnvoll in einen größeren kosmischen Zusammenhang einordnet,
(5) eine stetige Höherentwicklung der Umweltanpassung und zivilisatorischen Standards durch Domestizierung der Tiere und Nutzpflanzen, der Metallbearbeitung, Heilkunst, Bewässerung und Architektur, d. h. Hochkulturen sind immer auch instrumentell optimierende Technikkulturen,
(6) und schließlich eine all diese Bereiche überwölbende staatliche Organisation, die nicht nur auf bloßer Gewalt, sondern auf allgemeinen Regeln und Traditionen beruht und durch spezialisierte Herrschaftsträger wie Krieger oder Priester geleitet wird.
Eine besondere Rolle innerhalb dieser Merkmale kommt der Schrift zu, weil erst sie es ermöglicht, religiöses, technisches oder herrschaftsrelevantes Wissen über den Bereich des bloßen Einzelgedächtnisses hinaus weiterzugeben. Deswegen lässt man mit der Erfindung der sumerischen Keilschrift um 3000 vor der Zeitrechnung ( etwas früher als bei den Ägyptern und einige Jahrhunderte vor den Proto-Indern) die eigentliche Weltgeschichte beginnen.
Die Archäologen datieren die Blütezeit der Induskultur auf die Zeit von 2800 bis 1800 vor der Zeitrechnung. In dieser Zeit, in der in Ägypten die Pyramiden und in Mesopotamien die Zikkurats erbaut wurden, entstanden in Mohenjo Daro, Harappa und anderswo relativ unspektakuläre, aber geräumige Städte, die als Verarbeitungszentren und Handelsstützpunkte wie die Elemente eines weitgespannten Netzes einen Kulturraum von einer Million Quadratkilometern miteinander verbanden. Von der bloßen Bevölkerungsgröße Mohenjo Daros, die auf über 30.000 Menschen geschätzt wird, muss man zwingend auf landwirtschaftliche Überschüsse schließen. Der Indus als natürlicher Wasserweg ermöglichte weiträumige Handelsverbindungen, die bis zum Zweistromland reichten. Der Indus als Wasserspender trat alljährlich über die Ufer und hinterließ nach seinem Abfluss fette alluviale Böden, auf denen hohe Gerste- und Weizenerträge erzielt werden konnten.
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