Transasia. Von Karachi nach Beijing. Ludwig Witzani
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Wer sich für die konkreten Gerätschaften der Induszivilisation interessierte, wurde in zahllosen Glaskästen mit Erklärungen in Urdu und Englisch reichlich bedient. Ein großer Teil der Exponate bestand aus Miniaturskulpturen, aus zentimetergroßen Rindern, die einen winzigen Karren zogen, handtellergroßen Figürchen, die sich um die eigene Achse drehten, Miniaturschiffen und kleinen Häusern im Spielzeugformat. Auch an Töpfen, Tellern, Vasen und Wannen hinter Glas bestand kein Mangel. Werkzeuge und Waffen habe ich nur wenige gesehen. Die kümmerlichen Pfeilspitzen aus Kupfer, die in einem Schaukasten präsentiert wurden, werden keinen indoarischen Angreifer abgeschreckt haben. Dafür waren überall sogenannte „Siegel“ zu sehen, kleine runde Gebilde aus gebranntem Ton oder Speckstein, die mit Symbolen versehen waren und die wahrscheinlich die ersten individuelle Eigentumsmarker der Geschichte darstellten.
Oben: Ruinendetail von Mohenjo Daro mit Abwasserrinne Unten: Stadtbild Mohenjo Daro (Museum von Mohenjo Daro)
Übersah man die Gesamtheit der Exponate, dann erkannte man: die Induskultur war ein Kultur der kleinen Form. Sie hatte keine großen Monumente hervorgebracht, wahrscheinlich, weil es ihr dafür an dem geeigneten Baumaterial fehlte. Selbst das bedeutendste und stilbildende Kunstwerk der Induskultur, der so genannte „Priesterkönig von Mohenjo Daro, war nur eine kleine 17 Zentimeter große und elf Zentimeter breite Figur. Sie zeigte einen vornehm wirkenden bärtigen Mann mit Stirnreif und verziertem Umhang, der mit leicht erhobenem Kopf in die Ferne schaut. Als fototaugliches „Gesicht“ der Induskultur war das Bild des sogenannten Priesterkönigs um die Welt gegangen, ohne dass man sicher wusste, ob es sich überhaupt um einen Priester gehandelt hatte. (Beim sogenannten Priesterkönig von Palenque in Yucatan verhält es sich übrigens ähnlich). Was man im Museum von Mohenjo Daro sehen konnte, war allerdings auch nur eine Kopie, das Original wurde im Nationalmuseum in Karachi aufbewahrt.
Dass die Fachwelt bei so vielen Fragen auf Mutmaßungen angewiesen war, hing natürlich auch damit zusammen, dass die Schrift der Induskultur noch immer nicht übersetzt werden konnte. Wie einer großen Tafel im ersten Stock zu entnehmen war, handelte es sich bei der Schrift der Induskultur um ein System von etwa 300-400 Zeichen oder Piktogrammen, die nur als Bestandteile sehr kurzer Textfragmente erhalten geblieben sind. An dieser harten Nuss ist die Wissenschaft bislang gescheitert. Auf einen vergleichbaren Glücksfall wie den Fund einer zweisprachigen Stele in Altägyptisch und dem bekannten Aramäisch, die die Entzifferung der ägyptischen Hieroglyphenschrift erlaubte, wartet man bislang im Fall der Induskultur vergeblich. Was wäre es für eine Sensation, wenn plötzlich ein zweisprachiger Text in sumerischer Keilschrift und altindischen Schriftzeichen auftauchen und endlich die Entzifferung der Schrift von Mohenjo Daro erlauben würde. Welche Welt würde uns dann entgegentreten? Welche Herrscherfiguren würden Kontur gewinnen, von welchen Kriegen würden wir unterrichtet werden? Und würde das wirklich wichtig sein?
Bis dahin sind Fachwelt und Publikum auf die Erkenntnisse der Archäologie angewiesen. Die ausgegrabenen Überreste von Mohenjo Daro lagen nur wenige Meter vom Museum entfernt und konnten ohne Aufsicht besichtigt werden. Optisch machen sie recht wenig her, auch wenn manche der Ziegelfassaden restauriert worden waren, um die Stadtgliederung stärker hervortreten zu lassen. Das erste, das ich erblickte, als ich mich der Ausgrabungsstätte näherte, waren die Überreste einer buddhistischen Stupa, die einfach zweitausend Jahre nach dem Untergang von Mohenjo Daro auf die überwachsenen Ruinen gesetzt worden war. Wirklich in die Tiefen der Geschichte führten das sogenannte „große Bad“, dem kultische Bedeutung zugesprochen wurde, der sogenannte „Kornspeicher“ und jede Menge Ziegelhäuser, die wie Soldaten in Reih und Glied in einer sogenannten „Oberstadt“ und „Unterstadt“ zusammenstanden. Teilweise waren die Wände der Ziegelhäuser wiederhergestellt, teilweise stand ich vor verfallenen Fassaden mit zerbröselndem Gestein. Je länger ich zwischen den Häusern hin- und herwanderte, desto klarer wurde mir, dass ich mich in einer Stadt der Ziegel befand. Und zwar nicht irgendwelcher Ziegel, sondern den ersten Standardziegeln der Weltgeschichte. So unendlich ihre Zahl auch sein mochte, so identisch waren ihre Ausmaße, nämlich 28 x 14 x 7 Zentimeter, was einem Verhältnis von 4 zu 2 zu 1 entsprach.
Mohenjo Daro entwickelte aber nicht nur den ersten genormten Ziegel, sondern auch die erste leistungsfähige urbane Kanalisation. An den seitlichen Rändern der Straßen erkannte ich neben den Ziegelmauern überall kleine Rinnen, in denen in altvorderen Zeiten die natürlichen Abwässer der Bewohner in eine zentrale Kanalisation geleitet worden waren. Aber damit nicht genug. Verdankte die Menschheit den Sumerern die erste Schrift, den Ägyptern die Pyramiden, so haben die Angehörigen der Indus Kultur die Sitztoilette erfunden, eine bemerkenswerte kulturelle Innovation mit Dekadenzpotenzial, die nach dem Untergang der Induskultur in Vergessenheit geriet und sich erst wieder in einer späteren Phase der Menschheitsgeschichte durchsetzen sollte.
Bleibt die Frage, wie eine Kultur mit derart perfekten Ziegelhäusern und einer revolutionären Abwasserentsorgung untergehen konnte. War es der Standardziegel gewesen, dessen millionenfaches Brennen zum Verschwinden der Wälder geführt hatte? War die Stadt von einem Erdbeben zerstört oder war sie vom Indus überschwemmt worden? Wieder andere Erklärungen sprachen von Hitze- und Dürreperioden, Überbevölkerung oder Bodenerschöpfung. Lange Zeit war man davon ausgegangen, dass die geschichtlich verbürgte Invasion der Indoarier aus dem Norden die Induskultur vernichtet hätte. Hinweise im altindischen Mahabharata, die von der Erstürmung großer Städte erzählten, schienen in diese Richtung zu deuten. Ein reizvoller Gedanke: der altindische Held Arjuna erobert an der Spitze seiner Streitwagen Mohenjo Daro und testet die Sitztoilette. Neuere Forschungen legen aber den Schluss nahe, dass sich der Untergang der Induskultur bereits lange vor dem Einmarsch der Indoarier vollzogen haben musste. Die unterschiedlichen Ausgrabungsschichten erbrachten für den Beginn des zweiten vorchristlichen Jahrtausends deutliche Zeichen des Niedergangs. Die Häuser wurden schlampiger und kleiner gebaut, Schäden an den Stadtmauern deuten auf Eroberungen hin, und viele der ausgegrabenen Skelette weisen Tötungsspuren auf. Genaueres würde man erst erfahren, wenn es gelingen würde, die Schrift der Induskultur zu entziffern. Also vielleicht niemals.
Länger als zwei Stunden hielt ich es auf dem Ruinenfeld von Mohenjo Daro nicht aus. Am frühen Nachmittag wurde die Hitze so unerträglich, dass es zu einer schieren Existenzfrage wurde, einen schattigen Ort zu finden. So lief ich zurück zum Flughafen und verbrachte die letzten Stunden vor dem Abflug in der klimatisierten Abfertigungshalle. Die Wehrpflichtigen, die den Flughafen vor dem Angriff der Banditen schützen sollten, lagen auf den Sitzen und schliefen. Auch ich saß ermattet auf einem Ledersessel und betrachte die Umrisse der Ruinen. Von oben wurden sie durch die Sonne gebacken, von unten stieg das Salz des Grundwassers empor und zersetzte das, was noch im Boden geblieben war. Möglicherweise war die Rückkehr Mohenjo Daros aus den Tiefen der Geschichte nur eine Episode.
Kulturerbe der Menschheit: Die Ziegel von Mohenjo Daro
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