Transasia. Von Karachi nach Beijing. Ludwig Witzani
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Pakistanischer Busfahrer bewahrt die Übersicht
Derart ausstaffiert fuhr ich am nächsten Morgen zum Leo Market in der Innenstadt von Karachi und erwarb für umgerechnet 50 Cents ein Busticket nach Thatta. Obwohl ich meine Fototasche über der Schulter trug, erregte ich keinerlei Aufmerksamkeit und hatte genügend Muße, meine Umgebung zu betrachten. Die pakistanische Busse waren farbenfroh wie Karnevalswagen und in ihrem Innern streng nach Geschlechtern getrennt. Der hintere Teil des Busses war bis zum letzten Platz mit grimmig dreinblickenden Männern gefüllt. Vorne konnten es sich die Damen mit den Kindern bequem machen Da sage noch mal einer, der Islam sei eine ungalante Religion. Mit strengem Dienstgesicht überprüfte der Busfahrer vor dem Start, ob sich nicht doch irgendwo ein pakistanischer Jüngling in sitzender Haltung näher als einen halben Meter an eine pakistanische Frau herangearbeitet hatte. Nein, es war alles in Ordnung, und es konnte losgehen.
Wieder dauerte es eine geraume Zeit, bis der Bus das Einzugsgebiet der Stadt verlassen hatte. Ich saß auf einem Fensterplatz und beobachtete das gleiche wie gestern: Staub und Enge, Schutt und Dreck. Meine Verkleidung schien auch im Bus Niemandem aufzufallen, ganz abgesehen davon, dass ohnehin die meisten Männer gleich nach der Abfahrt des Busses in ein komatöses Dösen verfielen.
Im vorderen Teil des Busses waren fast alle Frauen verschleiert, wenngleich auf unterschiedliche Weise. Manche ließen nur die dunklen Augen frei, die eine oder andere zeigte gar an den nachlässig geschürzten Rändern ihres Tschadors eine Locke. Andere aber reisten komplett inkognito und saßen komplett verhüllt in schwarz aufrecht auf ihren Sitzen. Erst bei genauerem Hinblicken erkannte ich eine Rüschennaht in Augenhöhe, die ihnen eine grobe Orientierung in ihrer Umgebung ermöglichte. Das Ausmaß an Verhüllung hatte jedoch wenig mit Scheu oder Zurückhaltung zu tun. Die grellsten Farben prangten auf den Gewändern der völlig verschleierten Frauen, und man gewann sehr schnell den Eindruck, dass sich unter der Totalverhüllung ganz gut schimpfen ließ.
Neben den auf unterschiedliche Weise verhüllten Müttern tummelte sich eine große Kinderschar in den Gängen und an den Fenstern. Mit der natürlichen Grazie kleiner Prinzessinnen drückten die kleinen Mädchen ihre weißen, sauberen Hüte auf ihre dunkel gelockten Haare, wischten sich den Staub von ihren winzigen Schuhen und achten sorgfältig darauf, dass ihre goldgrünen Shalwars nicht zerknittern. Leider machten die Knaben neben ihren liebreizenden Schwestern keine gute Figur, nicht zuletzt deswegen, weil sie auf Geheiß der sparsamen Eltern zu Frisören geschickt worden waren, die ihnen die Köpfe nach alter Landessitte gründlicher abrasiert hatten, als je ein Schaf im Sindh geschoren worden war. Nun liefen sie herum wie glatzköpfige kleine Banditen, und fast hatte man das Gefühl, sie wollten sich für diese Verhunzung durch nervtötendes Gehabe revanchieren.
Kleiner Racker, kurzgeschoren
Jedenfalls entwickelte sich ein muslimischer Knabe, der wie ein trotziger Zwerg vor seiner rot verschleierten Mutter hockte, schon in einem frühen Stadium der Busfahrt zu einem regelrechten Erziehungsproblem. Schier unerschöpflich mit immer neuen Einfällen seine Mutter oder seine beiden Schwestern zu nerven, begann er auf seinem Sitz hektisch hin und her zu rutschen, herumzuquengeln und schließlich mit seiner kleinen Knabenfaust in immer kürzeren Abständen auf das gewaltige Mutterknie zu hämmern, nicht ohne dafür von seinen beiden hübschen Schwestern mit einer Mischung aus Bekümmerung und Missfallen gemustert zu werden. Als auch das Hämmern nichts nützte, außer dass ihm bald die kleinen Fäuste schmerzten, heulte er noch einmal auf, um dann blitzschnell in den rot-gelben Seidenschal seiner Mutter hineinzubeißen. Dieser überraschenden Attacke folgte ebenso schnell die Reaktion der Mutter. Sie riss dem Knaben das Tuch mit einem einzigen Ruck wieder aus dem Mund, dass ich mich wunderte, dass nicht alle Milchzähnchen hinterhergeflogen kamen. Wieder heulte der garstige Knabe auf, griff zu seiner Gummisandale und schwang sein Schuhwerk wie eine Waffe, um seiner Mutter möglicher-weise mit einem einzigen Schlag den Schleier vom Gesicht zu schlagen. Da hob die Mutter wieder mit einer erstaunlichen Geschwindigkeit die mächtige Hand, so groß wie der Kopf ihres missratenen Sprösslings, und verpasste ihm eine solche Ohrfeige, dass der Winzling über die Getriebehaube dem Busfahrer in die Schaltung kullerte, wofür er von diesem gleich noch eine Kopfnuss erhielt.
Noch spannender als diese Detailansichten pakistanischer Erziehung war der Stopp an der Polizeistation hinter Chaukundi, an der wir gestern hatten umkehren müssen. Diesmal schoben drei andere Soldaten Dienst, waren aber mit erkennbar weniger Elan bei der Sache als ihre Kollegen gestern. Ein kurzer Blick in den Bus genügte, und wir konnten weiterfahren.
Beim nächsten Stopp in einem namenlosen Dorf im Nirgendwo betrat ein islamischer Prediger den Bus. Ohne sich um die Aufmerksamkeit der Fahrgäste im geringsten zu kümmern, begann er sofort mit einem eintönigen Salbader, das alles Mögliche bedeuten mochte, ohne dass es die Zuhörer sonderlich beeindruckt hätte. Der Prediger besaß eine sehnige Figur und ein asketisches Gesicht und glich ein wenig dem Klischee des klassischen mohammedanischen Sufis, jener Gilde heiliger Männer, die seit dem 8. Jahrhundert durch den Sindh und später durch den Punjab gezogen waren und gegen die Ungerechtigkeiten der Sultane gepredigt hatten. Ihr Vorbild und ihre Bereitschaft zum Märtyrertum hatten mehr als alle gewalttätigen Massenbekehrungen dazu beigetragen, dass diese Region Alt-Indiens so früh dem Islam anheimgefallen war.
Auch heute noch predigten ihre Nachfolger gegen die politische Korruption in Islamabad und die Raffgier der Großgrundbesitzer. Was die Bestrafung von Übeltätern betraf, vertraten sie die Scharia, nach der ein Dieb mit seiner Hand und der Mörder mit seinem Leben büßen muss. Nun stiegen sie sogar in die Fernreisebusse, was immerhin den Vorteil hatte, dass ihnen niemand davonlaufen konnte. Trotzdem gelang es dem jungen Mullah mit seinem gutmütigen Auftreten nicht wirklich, die Aufmerksamkeit der Passagiere auf sich zu ziehen. Er zog stimmlich gegenüber einem Wasserverkäufer den Kürzeren, der an der nächsten Haltestelle den Bus betrat und, unbeeindruckt von dem frommen Mann, voller Inbrunst seine Erfrischungen anpries.
Draußen zog die Landschaft des südlichen Sindh vorüber. Im flimmernden Dunst der Mittagshitze verschmolzen die Umrisse von Akazien, Ruinen und Lehmhöfen zu bizarren Silhouetten. Manchmal standen defekte Lastwagen am Straßenrand, Öl lief auf die schwarzgebrannte Erde, und ein pakistanischer Fahrer lag wie leblos im Schatten seines Wagens. Überblickte man die gleichförmigen Ebenen auf beiden Seiten der Straße, wunderte man sich, dass in dieser Mondlandschaft überhaupt Menschen leben konnten. Die meisten flohen nach Karachi und Hyderabad, grotesk expandierenden Millionenstädten inmitten einer langsam versteppenden Landschaft. Die verbleibenden Bauern, die sich mit Viehzucht, Baumwoll- und Gemüseanbau durchschlugen, standen unter der Kontrolle der Großgrundbesitzer und wussten oft keinen anderen Ausweg als die Flucht in das Banditentum.
Zum Glück war von den Räuberbanden an diesem Tag nichts zu sehen. Vielleicht war es auch einfach zu heiß für einen Überfall. Die Sonne näherte sich ihrem Zenit, und rechts und links der Straße verdorrte der Ginster in der gnadenlosen Hitze.
Inzwischen hatten wir den Bezirk von Bhanbore erreicht, den Ort, an dem Alexander der Große nach seinem Zug durch den Punjab im Jahre 327 v. Chr. nur kurz vor weiteren indischen Eroberungen verschnaufen wollte, ehe er unter dem Druck seiner makedonischen Gefolgschaft eine unerwartet frühe Heimreise antreten musste.
Über eintausend Jahre sollten danach vergehen, bis ein zweiter Feldherr im Jahre 711 seinen Fuß auf den Boden des Sindh setzte: Muhammad ibn al-Qasim, mit neunzehn Jahren noch jünger als Alexander, stieg aus dem Hochland des Iran herab