Hugo Wietholz – ein Diakon des Rauhen Hauses – Autobiographie. Jürgen Ruszkowski
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Im Tausendjährigen Reich wurde man immer kühner, das Rheinland war jetzt frei, nun kam die Tschechoslowakei dran, dann Österreich, und danach begann die Judenverfolgung ganz massiv. Als im Eppendorfer Weg bei einigen Juden, die Geschäfte zertrümmert wurden und die Synagogen brannten, wurden wir hellwach. Hatte nicht Hitler schon in „Mein Kampf“ allerlei Drohungen ausgestoßen. Jetzt hieß es: „Juden raus zum Arbeitseinsatz“. Wie man aber mit den Juden in den KZs umgegangen war, das kam für uns erst bei der Besetzung durch die Amerikaner heraus. Wohl ahnten viele von dem wüsten Treiben der SS etwas, aber das schreckliche Vernichten in den Gaskammern, wurde uns erst zu spät bekannt.
In Hamburg ging die Arbeit ihren gewohnten Gang. Wir schlugen uns recht und schlecht durch und merkten immer mehr, wo die sogenannte Reichspolitik hintrieb. Es roch nach Kriegsvorbereitung. Bischof Lilje und Niemöller hatte man verhaftet und die Deutschen Christen machten sich in der Kirche mausig.
Im Sommer waren wir wieder auf Borkum und erleben schöne Tage. Wir hatten viel inneren Gewinn. In der Freizeit sahen wir uns auch mal auf der Insel um. Borkum entwickelte sich langsam zu einem großen Seebad. Es gab aber auch noch die kleinen Häuser, deren Gärten mit großen Walknochen eingezäunt waren. Hier konnte man sehen, dass die Borkumer früher Walfänger waren, mancher Reichtum zeugt von dem damaligen Erfolg. Wir haben auch mal einen tüchtigen Sturm erlebt, an der Kurpromenade spritzte die Gischt haushoch. Die Nordseite der Insel muss jedes Jahr neu befestigt werden, denn das Meer frisst immer wieder an einigen Stellen. Früher konnte man die Nordseite nicht richtig befestigen und so hat der blanke Hans immer große Teile weggespült und manches Dorf versank.
Unsere Lagerleitung holte manchmal einen bekannten Borkumer Seemann zum Erzählen. Dabei wurde auch Seemannsgarn gesponnen, aber auch manche wahre Begebenheit kam zur Sprache. Wenn ein Schiff auf dem gefährlichen Borkumriff gestrandet war, waren die Borkumer als Strandräuber schnell zur Stelle, ehe der Strandvogt kam, um das angeschwemmte Strandgut zu beschlagnahmen. Wenn eine Zeitlang kein Schiff gestrandet war, war am Strand ein falsches Signalfeuer entzündet worden, um mal wieder Beute machen zu können. Wir waren von diesen Erzählungen des alten Seebären sehr angetan.
Eines Tages wurde mir im Lager gesagt, aus Hamburg käme ein Pastor Wegeleben vom Rauhen Haus. Er sollte mit dem Flugzeug kommen, ob ich ihn wohl abholen würde. Also hin zum Inselflugplatz, gerade war die alte JU gelandet, und der Pastor entstieg dem Flugzeug. Wir machten uns bekannt und gingen zum Lager, wo Pastor Wegeleben später vor der Lagergemeinschaft einen Vortrag über das Rauhe Haus hielt. Er berichtete über die Ausbildung von jungen Männern für den Diakonenberuf in der Kirche. Von den Ausführungen des Redners und dem Prospekt über die Diakonenanstalt war ich ganz angetan, und später kam dann der Entschluss, mich im Büro des Rauhen Hauses zu melden.
Ich schrieb einen Lebenslauf für die Anmeldung im Rauhen Haus und hatte ein Gespräch mit Tilman Frieß, über die beruflichen Möglichkeiten eines Diakons. Er meinte, ich könne auch Beamter werden. Ich aber wollte eine Ausbildung als Gemeindediakon machen und nicht zum Beamten. Ich bat gleichzeitig auch noch um etwas Zeit, um die Arbeit in der Concordia zunächst weiter zu machen. Von 1938 bis 1939 gelang es noch – später musste einer der anderen Concorden ran.
Wir feierten 1938 das Kirchweihfest der Bethlehemskirche mit. Mutter bekam eine Arbeit im Eppendorfer Krankenhaus. Sie war natürlich mit meinem Eintritt ins Rauhe Haus nicht einverstanden. Aber der 31. März 1938 war der Tag, ab dem es kein Zurück mehr gab. Bei Klempnermeister Lampe, Eichenstraße 27, schien mein Schritt kein Unbehagen auszulösen. Ersatz war da. Eine liebe Kundin aus der Alardusstraße wünschte mir Gottes Segen. Meine letzte Arbeit im März hatte ich im Pinneberger Weg. Ich musste eine neue Dachrinne anbringen.
Diakonenausbildung im Rauhen Haus
Der 31. März 1938 war mein erster Tag im Rauhen Haus. Bruder Wörwag machte mit uns einen Rundgang durch die Anstalt.
Sonst gab es nur Anweisung zum Schlafen im Haus Tanne in einem Zimmer mit mehreren Anwärtern. Die nächsten Tage brachten für mich den Einsatz bei Arbeiten in der Anstalt. Ich war mit 29 Jahren eingetreten. „Was machen wir mit dem jungen Mann?“ Erst einmal musste ich zu Bruder Düwel, ein beliebtes Haus. Der hatte das Brüderbüro unter sich. Ich bekam den Vertrag zum Eintritt. Bei Austritt wären 3.000 Reichsmark fällig. 35 RM für Bücher und Unterhalt meiner Mutter. Was mich wunderte: Es gab keine Betreuung der jungen Brüder. Die zum Teil Älteren hielten sich sehr reserviert.
Wie ging es nun weiter im Rauhen Haus? Immer mehr junge Anwärter kamen. Wir lernen uns kennen, und weil nichts geschah, organisieren wir eine Gruppe. Zwischendurch wurde ich Pförtnerbruder: Telefonzentrale bedienen (stöpseln), Post in die Fächer einordnen, für Führungen den Schlüssel fürs alte Rauhe Haus herausgeben. Weil ich an den Schlüssel kam, gründen wir eine kleine Gruppe, eine Gebetsgemeinschaft. Wir trafen uns vor Arbeitsbeginn im alten Haus (Ruges Hus), in dem Wichern die ersten Anfänge gemacht hatte. Eine Zeitlang ging alles gut mit unserer Gruppe. Dann wurden wir verpfiffen. Es könnte etwas im Sinne des § 175 (damals strafbare Homosexualität) entstehen.
Pastor Wegeleben war der Direktor der Anstalt. Er wohnte in der I. Etage des Wichernhauses. Unten war die Verwaltung, die Pförtnerloge und der Brüdersaal. Ich sprach mit Pastor Wegeleben, um für uns eine Bibelstunde einzurichten. Wir wollten nicht ausbüchsen. Jeden Mittwoch hielt Pastor Wegeleben die Bibelstunde für uns Anwärter im Brüdersaal.
Sonnabends wurde mit Öl und Sägespänen der Parkettboden in der Tanne gereinigt. Es war immer noch das Jahr 1938. Ich wurde in der Kanzlei bei Anni Schulz und Frau Esmarch eingesetzt: Akten durchstöbern und ordnen. In der Telefonzentrale hatte ich viel Spaß mit gemachten Anrufen. Wir ärgerten August Füßinger, indem wir seine nuschelige Sprache nachmachten.
Links: August Füßinger – rechts der weiter oben erwähnte Bischof Lilje
Am Schalter erlebte ich manchen älteren Bruder. Von Bruderschaft konnte keine Rede sein. Wir jüngeren Anfänger mussten uns schon durchbeißen. In der Anstalt musste ich Laub fegen und Obst pflücken. Dabei fiel ich von der Leiter und verletzte mit die Ferse. Das war noch lange zu spüren. Im Heizungskeller musste ich für die Küche Koks schaufeln. Einmal hatte ich die Post in der Küche zu verteilen, und die Küchenmädchen umschwärmten einen wie die Bienen. Frieß kam hinzu: „Aber Bruder Wietholz, das ist verboten! Fräulein Sander holt doch die Post.“ - Komisches Mädchen.
Abends wurde die ausgehende Post von Pastor Wegeleben von dessen Hausmädchen gebracht. Sie musste frankiert werden. Es war meistens spät abends, und dann ergab sich mit der Deern ein Plausch. Sie war ganz hübsch, den damaligen Idolen entsprechend: blond, blauäugig und schlank. Es muss wohl im Herbst gewesen sein. Irgendeine Fahrt von der Concordia sollte sein. Vorher hatten wir uns zu einem Spaziergang verabredet. Ich wollte sie mal näher kennen lernen, was auch geschah, denn im Laufe des Gesprächs kamen wir auf die Zukunft zu sprechen, und sie offenbarte mir, dass sie als braune Schwester zur NSV wollte. Später, zurück von der Fahrt, habe ich ihr eine Karte geschrieben, dass es mit uns nichts werden könne. Wo sie später abgeblieben ist, entzieht sich meiner Kenntnis. Ich meine, sie so um 1950 in der Martinskirche gesehen zu haben. Pastor