Hugo Wietholz – ein Diakon des Rauhen Hauses – Autobiographie. Jürgen Ruszkowski
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Ich wurde jetzt mal in jeder RH-Familie eingesetzt, im Haus Eiche bei Bruder Fahrni, dann im Köcher bei den Lehrlingen. Morgens hieß es früh aufstehen. Auf Widerruf war ich bei Bruder Noack im Bienenkorb. Im Rauhen Haus war der Kampf der Diakone entbrannt. Ackermann aus der Wichernschule war strammer Parteigenosse der Nazis im Bund mit der NSDAP-Kreisleitung aus Blohmspark. Wegeleben war kurz vor dem Weggang.
Lisa und ich wollten uns bald verloben. Wir wurden gebeten, im Rauhen Haus die Ringe nicht öffentlich zu tragen, ältere Brüder könnten Anstoß daran nehmen. Blöd, aber so war es im Rauhen Haus: Keine Bräute während der Ausbildung. Pastor Wegeleben hatte man hinausgegrault, und ein neuer Direktor kam: Pastor Donndorf, der nun den Kampf mit Ackermann aufnehmen musste.
v. l. n. r: Pastor Donndorf, August Füßinger, Bischof Lilje (Foto aus den 1950er Jahren)
Eines Tages war es dann soweit, alle Familienleiter und Gehilfen mussten zu einer Versammlung, wo hohe Tiere der Partei dabei waren. Man musste sich entscheiden: Das alte Rauhe Haus mit seiner Erziehungsmethode fliegt auf, oder es wird eine SS-Heimschule. Das Personal wollte man mit übernehmen. Ich hatte zu der Zeit Dienst in der Zentrale und wartete auf eine richtige Entscheidung. Erziehungsarbeit im Rauhen Haus aufgeben, war meine Parole. Bruder Helmut Wittmack kam zu mir in die Zentrale und berichtete. Unter dem Druck von Ackermann und dem Kreisleiter hatte man sich für die SS-Heimschule entschieden. Helmut berichtete: Ackermann hätte gesagt, Christen und Nationalisten seien ja dasselbe. Darauf Helmut Wittmack: „Die sind wie Feuer und Wasser.“ Darauf Ackermann, er wolle es nicht gehört haben, nächstes Mal werde er ihn anzeigen. Wir aber waren von der Entscheidung bedient. Die Führung des Rauhen Hauses hatte kein Rückgrat gezeigt. Aber was für ein Wunder: Der Direktor Engelke war ja bei Reichsbischof Müller Reichsvikar geworden. Zwischendurch hatten wir in der Stadthalle in Harburg den Reichsbischof erlebt. Armer Mann, schweißwischend stand er am Rednerpult, seine Leibwache der SA als Saalschutz. Er, der Bischof, legte das Gleichnis vom verlorenen Sohn aus und zeigte auf Gott, holte auch den verlorenen Sohn heim, den Christus. Hier aber irrte dieser Reibi, wie wir ihn nannten, denn die ausgebreiteten Arme des Vaters sind ja Jesu Arme, denn nur durch ihn geht der Weg zum Vater. „Ich“, spricht Jesus, „bin der Weg und die Wahrheit. Niemand kommt zum Vater, denn durch mich.“ Weil die Nazis Jesus als Juden ablehnten, musste man solche Auslegung bei den Deutschen Christen konstruieren.
Im Rauhen Haus passierte viel Kleinkram. Von der Küche wurde ich zum Schlachtfest eingeladen. Mit Lisa machte ich abends viele Spaziergänge. Trotz Verbots!
Der 1. September 1939 kam, und Hitler ging zum Angriff auf Polen über. Vorher hatte er einen Vertrag mit Stalin abgeschlossen, der viel Staub aufwirbelte in der Welt. Man hatte halb Polen an Russland verschachert und die andere Hälfte nahm sich Hitler. Die Baltenstädte gingen auch an Russland, ohne diese Völker zu fragen. Womit Hitler nicht gerechnet hatte: Frankreich und England erklärten Hitler den Krieg. Jetzt hatten wir den Salat. Hitler hatte sich schon vorher die Staaten Österreich und die Tschechei vereinnahmt. Im Blitzkrieg wurde Polen niedergeworfen.
Wegen meines Magenleidens war ich auf der Krankenstation, wo ein alter Herr mit mir aß. Als er die Siegesfanfaren über Polen hörte, sagte er uns: „Was ist schon von Polen zu holen, als ein paar Stiefel ohne Sohlen.“ Dies habe ich nicht vergessen können, denn er sollte nur recht haben mit diesem Ausspruch. Unsere Klasse wurde bald aufgelöst. Viele Brüder wurden eingezogen. Wir halfen uns, wie wir nur konnten, in der Familie.
Im November 1939 bekam ich den Marschbefehl, zum Kattendorfer Hof bei Kaltenkirchen zu ziehen. Vom Rauhen Haus kamen hierher die schwierigsten Jungen. Dort regierte Bruder Graul, zu dem ich nie ein gutes Verhältnis bekam. Bevor ich das Schweizerhaus mit den Zöglingen übernahm, gab Graul Arbeitsanweisung, in der Erziehung habe nur er das Recht der Züchtigung. Nun wurden bei uns ja auch Brüder von Zöglingen verprügelt. Dies Glück wollte ich mir ersparen und regierte im Schweizerhaus so mit den Zöglingen, dass wir ganz gut miteinander auskamen. Einmal bekam ein ganz fieser Bursche doch mal eine Tracht Prügel, weil er etwas geklaut hatte, was er nicht wieder hergeben wollte. Die gestohlene Uhr fanden wir aber in einem Lampenschirm. Einmal holte ich einen Zögling bei Rendsburg ab, der ausgekniffen war. Man musste schon höllisch aufpassen, dass er unterwegs nicht wieder abhaute. Wir arbeiteten auf dem Feld und mussten Mist ausstreuen. Im Winter wurde in der Scheune gedroschen. Es gab auf dem Hof immer etwas zu tun.
Weihnachten hatte ich Urlaub und konnte bei Gabriels schlafen. Das Fest verlebte ich dort in der Familie. Lisas Großmutter in Billstedt lernte ich dabei auch noch kennen. Es ging zurück auf den Kattenhof, den Bruder Graul mit Erfolg gegen die Eingliederung verteidigte.
Plötzlich kam der gefürchtete Musterungsbefehl. Ab nach Kaltenkirchen: Untersuchung, und es hieß: KV, d. h. kriegsverwendungsfähig. Was lag nun wieder in der Luft? Hatte dieser Blödmann, oberster Kriegsherr Hitler, schon wieder was neues im Sinn?
1940
Der Winter war nicht sehr streng; Eis und Schnee gab es, aber man konnte damit zurechtkommen. Ab und zu bekam ich Wochenendurlaub. Dabei sprachen Lisa und ich uns ab, es möge zu Ostern 1940 zu einer Verlobung kommen. Erst einmal mussten die Eltern gefragt werden. So gab ich mir nach altem Brauch einen Ruck und bat die Eltern um die Hand ihrer Tochter Lisa. Weil ich kein unbeschriebenes Blatt mehr für die Eltern war, konnte man schon „ja“ sagen, auch wenn meine finanziellen Verhältnisse gleich null waren. Die Ausbildung war ja noch nicht abgeschlossen, immerhin war ich Diakonsschüler. Man lachte uns deshalb nicht aus. Auch später auf unserer Heiratsurkunde ist „Diakonsschüler“ vermerkt. Warum? Gründe kamen Jahre danach. Also, die Verlobungsfeier wurde auf den 24.3.1940 gelegt, vorher wurden die Ringe angeprobt und bestellt. Mein Freundschaftsring mit dem Kreuz wurde eingeschmolzen und mit einer Zugabe von Gold oder allerlei Ringen wurden die Ringe von Onkel Paul, der Goldschmied war, hergestellt. Das eingeschmolzene Kreuz hat später immer in unserer Ehe die entscheidende Rolle gespielt.
Zu Ostern bekam ich vom Kattenhofer Hof Urlaub, und mit unserem Kirchengang zur Martinskirche begann die Feier. Lisa hatte noch vorher bis in die Nacht Kuchen gebacken. Dabei habe ich versucht zu helfen und bei dem Ausstechen der Pasteten ein Glas zerbrochen. Zu Mittag gab es ein gutes Essen und Wein. Viele Tanten und Onkel waren gekommen, um dem jungen Paar und den Eltern zu gratulieren. Von meiner Seite konnte leider keiner kommen, dafür von Lisas Seite so reichlich, dass ich durch diese große Verwandtschaft nicht durchsteigen konnte. Wenn man mir Zeit lässt, würde ich es auch mal schaffen, damit zurecht zu kommen.
Der