Lebensweisheiten eines ordentlichen Trinkers. Helge Hanerth
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Unter solchen Umständen sich zu betrinken, verhindert mein philosophisches Wissen anzuwenden. Mir würden Detaildichte und Erlebenstiefe entgehen. Ich bin gerne ein Gewinner. Deswegen brauche ich Herausforderungen. Sie sind mir mentalistisch befriedigend, erst recht dann, wenn es kritisch wird.
Alkohol trübt diese Erfahrungen. Alkohol macht schläfrig, wo mein leidenschaftliches Tun zum geistigen Fließen führen könnte. Alkohol war bei mir immer ein Spaßfaktor. Für die Bewältigung ernster Momente ist Alkohol völlig ungeeignet. Bei Schicksalsschlägen kann Alkohol nur trösten, wo eigentlich Aktion gefordert ist. Wenn ich in einer das Schicksal beeinflussenden Situation durch den Einsatz von Alkohol untätig geblieben wäre, hätte ich Angst vor dem Versagensgefühl nach dem Kater. Ich würde wahrscheinlich vor Scham im Boden versinken. In einer einmaligen Situation versagt zu haben, ist eine nicht wieder gut zumachende Schuld. Damit könnte ich nicht leben.
Selbst der immer mögliche Tod meiner Tochter konnte kein Grund sein zu trinken, weil schon meine unendlichen Anstrengungen mir Trost sind und Betrunkenheit das Band meiner Verbundenheit mit meiner Tochter auslöschen würde. Diese Verbundenheit ist eine logische und geistige Verbundenheit, die unter Alkoholeinfluss nicht möglich ist. Die geistige Verbindung ginge selbstverständlich über ihren Tod hinaus. Erst mein eigenes Ende könnte diese Verbundenheit auf Erden löschen, wenn wir im Tode wieder vereint wären.
Meine Tochter entwickelte sich aber gut. Ich war beeindruckt wie reibungslos das lief. Hut ab, dachte ich immer wieder, vor den Ärzten und Pflegern und der Technik. Nach etwa dreizehn Monaten erklärte ein Kinderarzt meine Tochter für praktisch geheilt. Es gab nur noch ein sehr kleines Loch im Herzen, das ganz normal zuwachsen würde und keine Einschränkungen bereitete. So wurde die kleine flugtauglich geschrieben für ihre erste große Reise.
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Meine Frau hatte von einer alten Freundin erfahren, dass sie einen neuen Job mit Lehrauftrag hatte. Die Sensation war, dass sich die Universität in der Heimatstadt meiner Frau befand. Der Kontakt wurde vertieft. So ergab sich bald die folgende Entscheidung. Meine Frau zog mit den Kindern für ein Jahr zu ihrer Mutter. Die ehemalige Kommilitonin besorgte ihr in der Zwischenzeit eine Teilzeitstelle in ihrem Fachbereich. So fand meine Frau wieder den Einstieg ins Berufsleben und die Oma kümmerte sich derweil um den Nachwuchs. Wir waren mit dieser Option sehr zufrieden. Sie war nützlich und machte meine Schwiegermutter glücklich.
Längere Trennungszeiten kannten wir schon. Insgesamt dreimal waren vorübergehende räumliche Trennungen notwendig, damit unsere Karrieren nicht litten. Während meiner Promotion sahen wir uns zwei Jahre lang nur ein- bis zweimal monatlich. Das war einfach so notwendig. Der Unterschied diesmal, lag in der großen Entfernung zwischen Europa und Fernost. Heimfahrten zwischendurch planten wir nicht. Das Geld wollten wir uns sparen. Ein Jahr konnte so schnell vorbeigehen. Das sah man doch an unserer Tochter. Die bange Zeit um das kleine Leben auf der Intensivstation war fast vergessen. Wir sahen nur Grund zur Freude. Für meine Frau war es eine Chance. Ich war mächtig stolz, dass meine Frau ihre Karriere fortsetzen konnte. Es hatte sich gelohnt einen alten Kontakt zu pflegen. Vor allem die Kombination mit Kinderbetreuung machte es unmöglich, dieses <rundum sorglos> Angebot abzulehnen. Ich glaubte sogar, dass dieses Jahr so ähnlich werden könnte wie damals, als ich in einer zwölf Quadratmeter großen Studentenbude meine Freiheit genoss und meine Frau in einer anderen Stadt bereits einen Job antrat.
Zu Hause wurde es ohne meine Familie sehr ruhig, eigentlich sogar totenstill. Aber so war das auch früher gewesen. Zu erst nutzte ich meine Freiheit und arbeitete fortan länger wenn es sich ergab. Schließlich hatte ich Spaß an meiner Arbeit und brauchte kein schlechtes Gewissen haben, zu spät zum Abendbrot zu kommen. Ich konnte mich ganz meinem Ehrgeiz hingeben. Wenn ich Feierabend machte, joggte ich nicht mehr. Stattdessen fuhr ich zum Schwimmtraining der Triathleten. Da konnte ich bis 22:30 Uhr trainieren. Zu Hause las ich dann noch eine halbe Stunde. Die Idee zur Nacht Alkohol zu trinken, kam mir nicht. Ich liebe viel zu sehr diese befriedigende, sportliche Mattheit nach einem Training. Die ließ mich schon als Kind wohlig einschlafen. An den Wochenenden war ich grundsätzlich auf dem Gelände meines Flugclubs. Da gab es auch bei schlechtem Wetter noch genug zu tun mit Wartungsarbeiten an Schleppwinden oder dem Packen der Rettungsschirme. Ich fühlte mich wirklich so frei wie einst als Student und genauso genügsam war ich auch. Ich hatte ein kräftezehrendes Tagesprogramm. Das war Auslastung genug. Mehr brauchte es nicht um glücklich zu sein.
Nebenbei bewarb ich mich um einen neuen Job. Ich war mir noch nicht sicher, ob ich nach dem Betriebsübergang meine Position dauerhaft halten könnte. Ich sah die Gelegenheit gekommen, meinen Marktwert zu testen und neue Herausforderungen zu prüfen. Wechselfieber stieg in mir auf. Wohnt einem neuen Anfang nicht ein Zauber inne? Das hatte Hermann Hesse mal so gesagt. Dem wollte ich gerne zustimmen. Mir kam sogar die Idee, mich doch mal nach einem Job in China umzuschauen. Meine Branche war auch dort aktiv. Erste Kontakte waren schnell geknüpft. Der Rest war eine Frage von Beharrlichkeit und Ausdauer. Ich hatte Zeit, fast ein ganzes Jahr. Aus dieser Idee entwickelte ich einen kleinen Bewerbungstourismus. Meist ließen sich die Vorstellungsgespräche auf einen Freitag legen. Das war mit beruflichen Terminen leicht zu begründen, schließlich bewarb ich mich aus einer ungekündigten Position heraus. So konnte ich einige Bewerbungstermine für ein Wochenende in Berlin, Hamburg und München privat nutzen. Die Reisekosten übernahm die Firma, die mich sehen wollte, und ich trug die Hotelkosten.
In Berlin entdeckte ich so die stalinistische Atmosphäre des sowjetischen Ehrenmahls im Treptower Park. Während ich über die Anlage schritt, lief in mir ein Film ab, den ich so mit Begleitung nicht erleben könnte. Abends hatte ich die seltene Gelegenheit in einem Konzert Gamelanmusik aus Sumatra zu hören. In Hamburg besuchte ich zum ersten Mal seit etwa zehn Jahren eine Theateraufführung. Nach der Aufführung in der Kulturfabrik auf Kampnagel genoss ich das Alleinsein so richtig. Ich konnte einfach ins Hotel zurückkehren. Ich musste nicht mit anderen noch in eine Künstlerkneipe gehen, um pseudointellektuelle Phrasen zu dreschen über die deutsche Theaterkunst und den Zeitgeist.
In München zog es mich in die Alte Pinakothek. Dort wollte ich Albrecht Altdorfers Alexanderschlacht wiedersehen. Als Fünfzehnjähriger hatten mich die unendlichen Details fasziniert. Danach entdeckte ich die mir neue Pinakothek der Moderne. Das Hotelzimmer wurde mir an diesem Wochenende zur Eremitenklause. Ich las die ganze Nacht Kandinskys kunsttheoretisches Werk <Punkt und Linie zur Fläche>, als Vorbereitung für den Besuch des Lenbachhauses am nächsten Tag. Mensch, was war das ein Spaß Einblick zu finden, in die Kriterien, zur Komposition geometrischer Elemente, so dass sie als angenehm und ästhetisch empfunden werden. Es war toll in Ausstellungen ohne die Kinder zu gehen. Ich hatte Ruhe. Niemand interessierte sich für mich. Ich konnte allein sein