Erzählungen. Anton Tschechow

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Erzählungen - Anton Tschechow

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sie.

      Jetzt wäre es ihr angenehmer gewesen, wenn der Portier ›nein‹ gesagt hätte. Aber anstatt einer Antwort ließ er sie einfach ins Vorhaus treten und nahm ihr den Mantel ab.

      Die Treppe erschien ihr luxuriös und großartig, aber von all dem Luxus fiel ihr zuerst ein großer Spiegel auf, in welchem sie ein deklassiertes Ding ohne modernes Jackett, ohne hohen Hut und ohne Goldkäferschuhe erblickte. Und Wanda kam es seltsam vor, daß sie jetzt, wo sie arm gekleidet war und wie eine Näherin oder Wäscherin aussah, wieder Schande empfand, weder Dreistigkeit noch Frechheit mehr besaß und sich selbst in Gedanken schon nicht mehr Wanda, sondern, wie früher, Nastja Kanawkina nannte …

      »Bitte«, sagte das Zimmermädchen, sie in das Kabinett geleitend. »Der Herr Doktor kommt gleich … Nehmen Sie Platz.«

      Wanda sank in einen weichen Lehnstuhl.

      »Werd' ihm ganz einfach sagen: leihen Sie mir!« dachte sie. »Das ist ganz anständig, denn er ist ja mit mir bekannt. Wenn nur das Zimmermädchen wegginge. In Gegenwart des Zimmermädchens wäre es peinlich … Und wozu steht sie überhaupt hier?«

      Nach fünf Minuten etwa öffnete sich die Tür, und Finkel, ein großer, schwarzer Jude mit fetten Wangen und Glotzaugen trat ein. Die Wangen, der Bauch, die dicken Hüften – alles war bei ihm so satt und abstoßend. In der »Renaissance« und im »Deutschen Club« war er gewöhnlich angeheitert, gab dort viel für Frauen aus und ertrug geduldig ihre Späße – als ihm Wanda zum Beispiel ein Glas Wein über den Kopf gegossen, hatte er nur gelächelt und ihr mit dem Finger gedroht. Jetzt aber sah er finster und schläfrig aus, schaute wichtig und kalt wie ein Vorgesetzter drein und kaute irgend etwas.

      »Was befehlen Sie?« fragte er, ohne Wanda anzusehen.

      Wanda warf einen Blick auf das ernste Gesicht des Zimmermädchens, dann auf die satte Figur Finkels, der sie offenbar nicht zu erkennen schien, und – errötete …

      »Was befehlen Sie?« wiederholte der Zahnarzt schon etwas gereizt.

      »Die … die Zähne tun mir weh …« stammelte Wanda.

      »Aha … Welche Zähne? Wo?«

      Wanda entsann sich, daß sie einen hohlen Zahn hatte.

      »Unten rechts …« sagte sie.

      »Hm! Öffnen Sie den Mund.«

      Finkel runzelte die Stirn, hielt den Atem an und begann den kranken Zahn zu untersuchen.

      »Schmerzt es?« fragte er, in dem Zahn mit einem spitzen Eisen herumstochernd.

      »Ja …« log Vanda. »Wenn ich ihn daran erinnern könnte. so würde er mich bestimmt erkennen … Aber … das Zimmermädchen! Wozu steht es hier?«

      Finkel begann plötzlich wie eine Dampfmaschine ihr direkt in den Mund zu keuchen und sagte:

      »Ich rate Ihnen nicht, ihn plombieren zu lassen … Dieser Zahn würde Ihnen sowieso nichts nützen.«

      Nachdem er in dem Zahn noch etwas herumgestochert und Wandas Lippen und Zahnfleisch mit seinen Tabakfingern beschmiert hatte, hielt er wieder den Atem an und langte ihr mit irgend etwas Kaltem in den Mund …

      Wanda fühlte plötzlich einen furchtbaren Schmerz, schrie auf und packte Finkel am Arm.

      »Tut nichts, tut nichts …« murmelte er. »Seien Sie nicht so schreckhaft. Von diesem Zahn hätten Sie sowieso nicht viel gehabt. Man muß tapfer sein.«

      Und seine mit Blut besudelten Tabakfinger hielten ihr den ausgezogenen Zahn vor die Augen hin, während das Zimmermädchen herantrat und ihr eine Schale reichte.

      »Zu Hause spülen Sie den Mund mit kaltem Wasser …« sagte Finkel, »dann wird das Bluten schon nachlassen.«

      Er stand vor ihr in der Pose eines Menschen, der wartet, bis man endlich geht und ihn in Ruhe läßt.

      »Adieu …« sagte sie, sich zur Türe wendend.

      »Hm! … Und wer wird mir meine Arbeit bezahlen?« fragte Finkel mit heiterer Stimme.

      »Ach, ja …« erinnerte sich Wanda. Sie errötete und reichte dem Juden den Rubel, den sie für ihren Türkisring erhalten.

      Auf die Straße hinausgetreten, empfand sie noch größere Scham als vordem, aber jetzt schämte sie sich nicht mehr ihrer Armut. Sie bemerkte nicht mehr, daß sie keinen hohen Hut und kein modernes Jackett hatte. Sie geht auf der Straße, spuckt Blut, und jeder rote Blutfleck spricht ihr von ihrem Leben, von ihrem schlechten und schweren Leben, und von den Kränkungen, die sie erfahren hat und noch morgen, nach einer Woche, nach einem Jahr – ihr ganzes Leben hindurch bis zum Tode erfahren wird.

      »O, wie das schrecklich ist!« flüsterte sie. »Mein Gott, wie schrecklich!«

      Übrigens war sie schon am anderen Tage in der »Renaissance« und tanzte dort. Sie war in einem riesigen roten Hut, hatte ein modernes Jackett und Goldkäferschuhe an. Und sie soupierte mit einem jungen, aus Kasanj zugereisten Kaufmann.

      Eine Schutzlose

      Trotz des heftigen Podagraanfalles in der Nacht und trotz der zerrütteten Nerven begab sich Kistunow dennoch am Morgen ins Bureau und begann rechtzeitig den Empfang der Klienten der Bank. Er sah leidend und müde aus und sprach mit sterbender Stimme.

      »Was wünschen Sie?« wandte er sich an eine Frau in einem vorsintflutlichen Mantel, die von hinten einem großen Mistkäfer sehr ähnlich sah.

      »Ich bitte schön, Ew. Exzellenz«, begann die Frau, die Worte schnell herunterhaspelnd, »mein Mann, der Kollegienassessor Schtschukin, war fünf Monate krank, und während er noch, entschuldigen Sie, zu Hause lag und behandelt wurde, erhielt er ohne jeden Grund den Abschied, und als ich nach seinem Gehalt ging, Ew. Exzellenz, wurden ihm von dem Gehalt vierundzwanzig Rubel sechsunddreißig Kopeken abgezogen! Und wofür, wenn ich fragen darf? ›Er hat aus der Beamtenkasse Geld geliehen und die anderen Beamten haben sich für ihn verbürgt‹. Wie denn das? Wie konnte er das Geld ohne meine Zustimmung nehmen? Das ist garnicht möglich, Ew. Exzellenz. Was soll denn das bedeuten? Ich bin eine arme Frau, lebe vom Zimmervermieten … Ich bin schwach und schutzlos … Von allen erfahre ich nur Kränkungen und niemand sagt mir ein gutes Wort …«

      Die Bittstellerin begann mit den Augen zu blinzeln und suchte in ihrem Mantel nach dem Taschentuch.

      Kistunow nahm ihr Gesuch entgegen und las es.

      »Ja, aber erlauben Sie«, sagte er achselzuckend, »ich verstehe hier nichts. Sie sind wohl, meine Gnädige, an die unrechte Stelle gekommen. Ihr Gesuch geht uns ja gar nichts an. Wenden Sie sich gefälligst an das Ressort. bei welchem ihr Gemahl angestellt war.«

      »Nein, mein Herr, ich bin schon an fünf Stellen gewesen und nirgends hat man mein Gesuch überhaupt nur entgegennehmen wollen!« sagte Frau Schtschukina. »Ich hatte schon ganz den Kopf verloren, da schickte mich mein Schwiegersohn Boris Matwejitsch, Gott lohne es ihm, zu Ihnen. ›Wenden Sie sich nur an den Herrn Kistunow. Mama‹, sagte er mir, ›er hat eine einflußreiche Stellung und kann alles für Sie machen …‹ Helfen Sie mir, Ew. Exzellenz!«

      »Wir können da nichts für Sie tun … Begreifen

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