Der Jakobsweg am Meer. Michael Sohmen
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»Seid ihr spanische Pilger? Und ist dieser Weg interessant?«, frage ich ihn.
»Keine Ahnung«, antwortet er. »Auch ich bin denen spontan gefolgt. Ich komme aus Belgien.«
Es ist eine spontan zusammengewürfelte Gruppe. Der Schotterweg endet an einem Bauernhof und kein Pfeil deutet daraufhin, in welche Richtung man gehen soll. Es gibt eine asphaltierte Straße, die in die umgekehrte Richtung führt. Als ein Mann vor dem Eingang des Gebäudes auftaucht, marschieren zwei aus der Gruppe auf ihn zu. Es beginnt eine Diskussion in Spanisch und diese dauert eine Weile, bis geklärt ist, wie es weitergeht.
»Hier geht es weiter.« Einer der Spanier geht voran und wir marschieren über eine steil abfallende Wiese. Langsam wird mir klar, dass meine Vermutung falsch war, dass sich jemand aus der Gruppe auskennen würde. Am Schluss der Wiese durchqueren wir einen Wald, nach einiger Zeit erreichen wir einen Rastplatz. Erschöpft legt jeder seinen Rucksack ab. Eine Weile beobachte ich, wie zwei aus der Gruppe vor einer Tafel stehen und diskutieren.
Außer dem Belgier besteht unser Kreis aus zwei weiblichen und einem männlichen Pilger spanischer Herkunft. Ich werfe ebenso einen Blick auf die Informationstafel und betrachte vier Wegvarianten. Vergilbte Landschaftsfotos sind am Rand zu sehen. Ein direkter Weg nach Deba ist eingezeichnet, das Ziel meiner heutigen Etappe.
»Am besten nehmen wir den direkten Weg«, schlage ich vor und zeige auf den Wegweiser mit der Aufschrift ›Deba‹ am Ende des Rastplatzes.
»Wir wollen einen anderen Weg gehen.« Der Spanier führt mich zur Tafel zurück und zeigt auf eine Linie, die zum Meer weist. Ganz klar ist dies als weiter Umweg zu erkennen. Die doppelte Strecke, mindestens.
Als die anderen nach einer Viertelstunde aufbrechen, folge ich ihnen, obwohl ich mir sicher bin, dass niemand weiß, wo es langgeht und wir ziellos herumirren. Einem Bachlauf folgend marschieren wir auf einem Trampelpfad durch einen Wald, der sich nach einigen Kilometern lichtet. Als wir über eine Wiese wandern, ist das Meer schon zu erkennen. Dort endet der Pfad, über flache Steine balancieren wir zum Wasser hinab.
»Auf meiner letzten Wanderung auf dem Camino del Norte habe ich dieses Naturwunder verpasst.« Der Spanier zeigt eine flach abfallende Klippe hinauf. »Übrigens, ich heiße Mario. Die anderen sind Jennifer und Maria.«
Bisher hatten wir uns noch nicht vorgestellt. Ich wusste nur den Namen von Gabriel, der sich derweil auf einem Stein niedergelassen hat und eine Zigarette dreht.
»Die Gesteinsform nennt sich Flysch«, erklärt der Spanier. Beeindruckt betrachte ich die Steinwand. Es lockt mich, einen Versuch zu wagen, die 45 Grad steile Wand zu erklimmen. Doch der Stein ist vollkommen glatt und es sind weder Risse, noch Griffe zu sehen. Es wirkt, als wäre diese Klippe künstlich errichtet worden. Doch lassen die Schichten erkennen, wie diese Gesteinsformation entstanden ist und dass sie aus Ablagerungen aus vielen Millionen Jahren besteht. Mittels Plattentektonik wurde sie in die Senkrechte gedreht und zu einer riesigen Fläche nackten Felsens, auf der sich kein Grün festsetzen kann. Wir nehmen Fotos auf, wandern umher und stapfen durch das Wasser.
Am Rand der Klippe führt ein Trampelpfad hinauf, dem wir nach der langen Pause folgen. Der Hang, der mit schwarzen Kugeln übersät ist, wird wohl als Schafweide genutzt. Jennifer, die spanische Pilgerin, tut sich zunehmend schwer, als ein steiler Aufstieg beginnt. Einerseits ist sie übergewichtig, andererseits sind ihre Schuhe für dieses Gelände denkbar ungeeignet. Sie trägt Ballerina-Schuhe ohne Profil, wodurch sie häufig ins Rutschen gerät. Nach einer Weile haben wir einen phantastischen Aussichtspunkt erreicht und genießen die Rundumsicht auf die Klippen und das Meer. Nach einem kurzen Stopp und als die Ballerina-tragende Spanierin zur Gruppe aufgerückt ist, geht es einen rutschigen Pfad abwärts. Als ich neben Gabriel wandere, schlittert Jennifer plötzlich an uns vorbei und bleibt mit schmerzverzerrtem Gesicht vor uns liegen. Alle eilen zu ihr.
»Beruhige dich. Du hast Glück. Ich bin Krankenschwester«, erklärt die zweite Spanierin namens Maria, während sie den Fuß begutachtet. »Kannst du aufstehen?«
»Ich glaube nicht.«
Während ich Jennifers unbeholfene Versuche beobachte, auf ihre Füße zu kommen und sie mühselig versucht, einen Fuß vor den anderen zu setzen, atme ich tief durch. Mir wird klar, dass aus der rechtzeitigen Ankunft in Deba heute nichts mehr wird. Die Chancen, einen Platz in der Herberge zu bekommen, sind gleich Null. Doch die Prioritäten haben sich geändert und mir wird bewusst, so schön der Weg in dieser Wildnis auch ist, auf keinen Fall sollte man ihn alleine wagen. Wer ohne Begleitung auf den mit Kraut bewachsenen Hügeln verunglückt, ist auf sich selbst gestellt. Außer uns fünf Pilgern ist weit und breit niemand unterwegs.
Ein steiler Anstieg führt über eine Schafwiese und es geht nur in extremem Schneckentempo hinauf, damit die Verunglückte mithalten kann.
»Schau mal, dort klettern Schafe.« Gabriel zeigt plötzlich grinsend zur Felswand vor uns.
Ich brauche einen Moment, um die weißen Punkte zu erkennen, die an einer Steilwand kleben.
»Ich wusste nicht, dass Schafe so gut klettern können«, wundere ich mich. Von Gämsen ist es bekannt. Die sind aber Wildtiere und das alpine Terrain gewöhnt. In das Gelände, in dem die domestizierten Nutztiere gerade unterwegs sind, hätte ich mich ohne Sicherung durch ein Seil nicht gewagt.
Nach einer gefühlten Ewigkeit haben wir den Trampelpfad hinter uns gelassen und erreichen eine Straße. Wir hoffen, dass bald ein Auto auftaucht, das die verunglückte Spanierin mitnehmen kann. Diese Gegend ist jedoch wie ausgestorben und auf der Landstraße ist außer uns niemand unterwegs. Nicht einmal ein Traktor. Nach ungefähr einem Kilometer endet die Straße vor einem verschlossenen Metallzaun. Da wir hier nicht weiterkommen, kehren wir um.
Abseits der Straße entdecken wir einen Schotterpfad, der zum Meer herunterführt. Als an einem Baum endlich wieder der rot-weiße Doppelstrich zu sehen ist, jubele ich leise. Die Markierung weist auf einen europäischen Fernwanderweg hin. Im Unterschied zu gelben Pfeilen und Muschelsymbolen, mit denen der Jakobsweg gekennzeichnet ist, werden diese Pfade jedoch eher selten gepflegt.
Der Weg endet an einer von Brombeergestrüpp eingeschlossenen Wiese. Ein einsamer Esel zupft Kräuter aus dem Gras. An unserem Auftauchen scheint er sich nicht zu stören.
Seit einiger Zeit macht mir dieser Umweg keinen Spaß mehr. Dass wir erneut in einer Sackgasse gelandet sind, bereitet mir noch weniger Freude. Während Mario und Gabriel die Umgebung erkunden, indem sie sich durch die dornige Hecke zwängen, warte ich bei den spanischen Pilgerinnen. Bis die anderen wieder auftauchen und unsere Lage endgültig als aussichtslos bestätigen, beschäftige ich mich damit, Gras aus der Wiese zu rupfen und es dem Esel anzubieten. Der ignoriert meine freundschaftliche Geste trotzig.
»Wie haben einen Weg gefunden!« Die beiden Pfadfinder winken aus dem Dornengestrüpp. »Hier geht es weiter!«
Statt sich durch mannshohe Brombeerranken zu kämpfen, hätte ich dafür