Der veruntreute Himmel. Franz Werfel

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Der veruntreute Himmel - Franz Werfel

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aber werde ich dreiundachtzig alt, nicht ganz angenehm für einen Junggesellen, aber Philipp und Doris werden mich gewiß nicht verlassen. Philipp und Doris. Komisch, ich hoffe somit als Schmarotzer an der Kindesliebe einer fremden Nachkommenschaft zu enden.

      Ununterbrochen drang die Tanzmusik eines überlauten Grammophons aus dem Garten zu mir herauf. Dazwischen war Philipps helle lachende Stimme, die keinen Widerspruch zu dulden schien, immer wieder zu hören. Er stand gleichsam auf der Kommandobrücke dieser Festnacht. Ich ging auf und ab in meinem lieben dunklen Zimmer. Ich berührte im Vorbeistreifen meine Bücherrücken. Ich sog mich voll an meinen eigenen alternden Geistern, die neben mir auf und ab durchs Zimmer wanderten. Noch einmal stellte ich fest: Es geht mir gut. Zugleich aber erschrak ich ein bißchen über diese so oft wiederholte Feststellung. Die wahre Gesundheit weiß nichts von sich selbst. Dann stieg ich wieder in den Park hinab.

       Die Dienerschaft war schlafen gegangen. Der größere Teil der Gäste hatte sich schon zurückgezogen. Gott weiß, wie spät es sein mochte. Die Freunde und Freundinnen der Kinder hielten noch stand. Der Tanz auf der Terrasse ging weiter. Nur die Stimme des Grammophons schien mir schrill vor Müdigkeit geworden zu sein. Ich fand Livia und Leopold an einem Tisch mit dem Lacher, dessen mondhafter Glatzkopf in Dunkel schwebte. Das Männchen hatte den größten Teil seines Schatzes bereits vergeudet. Er lächelte nur mehr verklärt.

      »Komm her, Alter«, rief Leopold mir zu, »und trink! So jung sitzen wir nicht wieder beisammen!«

      »Er will diese Nacht nicht mehr ins Bett«, lachte Livia, »und er hat ganz recht.« Leopold schenkte mir puren Whisky ein. Sein gutes breites Gesicht war schon tief gebräunt durch die nächtliche Sonne des Alkohols:

      »Natürlich hab' ich recht, Theo. – So jung werden wir morgen nicht mehr sein. – Das Alter kommt nämlich nicht, wie diese blöden Ärzte behaupten, tropfenweise, nach und nach, unmerklich, nein, mein Guter, mit einem Schlag kommt's.« – Er hieb die Faust auf den Tisch. – »Wie in Raimunds ›Bauer und Millionär‹, erinnerst du dich: Die Tür fliegt auf, ein kalter Wind weht herein, und ein krächzender gichtischer Mummelgreis in Pelz und Schlapfen tritt auf, das Alter.«

      »Brüderlein fein, Brüderlein fein, einmal muß geschieden sein«, sang der Lacher vor sich hin und wiegte seinen Vollmond. Leopold bedeckte plötzlich sein Glas mit der Hand. Es war eine verwehrende Geste.

      »Eine der größten Szenen der Weltliteratur ist das«, sagte er, »für mich wenigstens – wie zuerst die Jugend im Ballettröckchen sich verabschiedet und dann das Alter mit dem eingeschneiten Pelz auftritt. Das reicht an Shakespeare. Ein lieber, kindlicher, wienerischer und doch ganz verzwickter Shakespeare. – Und gelebt haben am Ende nur die paar Genies, wie dieser arme Ferdinand Raimund. – Wir andern aber leben nur, um ihre Geschenke zu empfangen. – Prost, Theo.«

      Wir tranken und schwiegen.

      Plötzlich tauchte Philipp auf:

      »Gestatten die Herrschaften?«

      Der Vater schob ihm ein Glas hin. Er aber lehnte es ab und blieb stehen:

      »Für die Erklärung, die ich abzulegen habe«, begann er mit seiner gewundensten Feierlichkeit, »ist es notwendig, daß ich aufrecht stehe und meine ungetrübte Nüchternheit bekunde. Herr Leopold Argan, Frau Livia Argan, ich hab' euch ein Kompliment zu machen. Es heißt, daß sich niemand seine Eltern aussuchen darf. Schwindel! Ich hab' euch mir ausgesucht, sonst würd' ich nicht ...«

      Er machte eine kleine Pause und wurde feuerrot, weil er sich vor uns schämte. Dann aber brach mit voller Kraft das Geständnis aus ihm:

      »Ich bin nämlich so furchtbar gern auf der Welt!«

       »Das ist wirklich das größte Kompliment, das einer seinen Herren Erzeugern machen kann«, strahlte der Lacher. Leopold aber prüfte eingehend die Flaschenbatterie, die auf dem Tisch stand: »Darauf müssen wir etwas ganz Starkes miteinander trinken, nüchterner alter dummer Bursche.«

      Philipp jedoch war schon wieder verschwunden. Das Grammophon, das ein paar Minuten lang Atem geschöpft hatte, heulte von neuem los. Es fiel mir auf, daß Livia nicht mit uns angestoßen hatte, als wir auf die Lebensfreude ihres Sohnes tranken.

      Auf einmal war das Dunkel, in dem wir uns sprechend oder schweigend dehnten wie in einem lauen Bad, fliederfarbig geworden. Die Grillen von Grafenegg – nach ihrer Tonstärke zu schließen sehr ansehnliche Bestien – hielten inne wie auf ein Taktzeichen. Die Natur schaltete überdeutlich einen Zwischenakt ein, als brauche sie eine Weile für Umbau und Neustimmung. Diese von einer jähen Kälte begleitete Verwandlungspause dauerte noch an, als die ersten grünlichen Andeutungen die ausblassende Fliederfarbe durchzuckten, der Nachthimmel mit den meisten Sternen zu einem wässerigen Stoff einschmolz und auf den Graten im Westen, wie aus dem Innern des Toten Gebirges gesogen, ein unaussprechlich geistiges Lila hervortrat. Doch bei der nächsten Rückung des morgendlichen Farbenzeigers war der Zwischenakt der Natur zu Ende, und die Vögel setzten ein mit einem Schlag. Es war ein aufbegehrendes, ja ein gemeiner Streit, der da plötzlich losbrach. Die Vögel schienen weniger die nahende Sonne zu grüßen, als empört bei ihren gestrigen Unstimmigkeiten anzuknüpfen, genau dort, wo sie diese abgebrochen hatten. Nach der kosmischen Lähmung durch die Nacht plärrte da in diesem Vogelschrei die ganze Banalität, die niedrige Verschworenheit des Lebens los mit ihrem kleinbürgerlichen Neid und Hader, durch den erst das Ungeheure unserer Existenz im All den Erdenwesen erträglich zu werden scheint. Und Leopold hatte recht. Die großen Verwandlungen geschehen nicht allmählich, sondern mit einem Schlag. Im Gegensatz zu der bekannten Lehrmeinung macht die Natur Sprünge, wo sie nur kann.

      Wir aber fühlten uns in den wachsenden Tag hinein sonderbar stolz. Wir hatten ja nicht nur eine Nacht durchzecht, sondern dieses Morgenwerden mit unserer eigenen Natur, mit unserm ganzen Körper tüchtig mitgeleistet. Erschöpft und ausgeruht, still und freudig, gedankenleer und besonnen fand uns die kurze Kälte vor Sonnenaufgang.

      »Es ist doch schön«, sagte Livia, »den Morgen wieder einmal auf die Art erlebt zu haben. Wenn man geschlafen hat, ist es nicht dasselbe.«

       Sie rief Doris und deren Freundinnen herbei und ging mit ihnen ins Haus, um das Frühstück zu bereiten. Schon nach einer Viertelstunde war der Tisch gedeckt. Heißer, starker Kaffee wurde aufgetragen, Brot und Kuchen, Butter und Honig, Eier und Schinken. Mit Heißhunger stürzten wir uns darauf, denn der verlorene Schlaf wollte durch Speis und Trank ersetzt werden. Der Lacher, der trotz seiner fortgeschrittenen Jahre mit uns standgehalten hatte, war auch ein Lober. Einer Hausfrau wie Livia sei er noch niemals begegnet, erklärte er. »Denkt euch«, sagte Livia, damit das Lob gerecht verteilt sei, »Teta war schon auf und hat bereits alles vorbereitet gehabt.«

      Unsere Kaffeetassen waren noch nicht leer, als Philipp die unvermutete Absicht äußerte, sofort aufzubrechen und mit seinen Freunden den Schröckenspitz zu ersteigen. So hieß der nächstgelegene, zum Herrschaftsgebiet des Toten Gebirges gehörige Berggipfel von etwa zweitausenddreihundert Meter Höhe, eine sogenannte »schwierige Partie«, da sie einige ungesicherte Kletterstellen aufwies. Livia sah ihren Sohn flüchtig an:

      »Ich hab' immer gemeint, du verabscheust jeden Dilettantismus«, sagte sie. »Was bedeutet das, gnädigste Frau Mama?« sagte er. »Vielleicht kann's dir der Theo erklären.«

      Ich wußte, daß Livia nur sehr ungern ein Verbot aussprach, von Leopold ganz zu schweigen. Daher übernahm ich's, ihren Dolmetsch zu machen.

      »Deine Mutter meint, daß nur ein Dilettant sich unausgeschlafen und übernächtig an solch einen Aufstieg heranwagt. Die echten Bergsteiger gehn um acht Uhr zu Bett, schonen ihre Glieder und enthalten sich des Alkohols vorher, bekanntlich. Ihr würdet sicher schon beim Bernegger Bauern umkehren müssen und mit einer unnötigen,

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