Der veruntreute Himmel. Franz Werfel
Чтение книги онлайн.
Читать онлайн книгу Der veruntreute Himmel - Franz Werfel страница 15
Philipp machte den Ansager. Er setzte mich in Erstaunen, ja fast in Schrecken. So wie heute hatte ich den Jungen noch nie gesehen. Wohl kannte ich sein Temperament und seinen wilden Rhythmus beim Musizieren, zwei Eigenschaften übrigens, die nur eine einzige sind. Im Leben sonst gab sich dieser blonde hochgeschossene Philipp – das Bild eines jungen Menschen – gesetzt, aufmerksam und beinahe gemessen. In seiner Sprechweise bevorzugte er ein eigentümlich trockenes Pathos, in dem er ideelle Gegenstände in platte Worte kleidete, wie zum Beispiel: »Ich werde demnächst ein Lied oder eine Sonate anfertigen«, und umgekehrt Alltägliches in künstlerische Begriffe hob: »Fräul'n Teta ist heute erzürnt und hat daher den Apfelstrudel ohne Rosinen nach a-Moll moduliert.« Hinter diesen Fexereien verbarg sich bei Philipp, ebenso wie hinter der stillen Ironie seiner Schwester, irgend etwas, was er nicht preisgeben wollte. Mich sprach er manchmal am Morgen in dritter Person an: »Haben einen hinreichend guten Schlaf absolviert heute?« Es konnte so geschehen, daß er mich ganze Tage lang nicht direkt anredete. Ich ging oft mit ihm spazieren, und wir unterhielten uns wie Leute, die sich seit Unzeiten kennen und schätzen und im großen und ganzen dieselben Ansichten haben. Er hörte mir dann wohlwollend zu und bat sogar in dieser oder jener Sache um meine Belehrung. Viel öfters aber geschah es, daß sich Philipp als mein Beschützer fühlte und mir herzlich den Arm um die Schulter legte, denn ich war etwas kleiner als er. Er schien sich in mir eines hilfsbedürftigen Wesens zu erbarmen, das noch aus einer sehr ungeschickten Vorwelt stammte und dessen Schritte man lenken mußte. Trotz seiner Anhänglichkeit aber bekam ich nicht ein einziges Mal das Gefühl, ihn wirklich aufgeschlossen zu haben. Ich schob's auf das Lebensgesetz, das die Generationen unerbittlich voneinander trennt, und gar in dieser Zeit, wo ein Jahrzehnt wahrscheinlich dem Jahrhundert einer sanfteren Epoche in seiner Schrittweite entspricht. So viel aber verstand ich manchmal, daß in Philipp etwas Zügelloses am Werke sein mußte, das er mittels seiner gewundenen Redeweise verhüllte, um nicht aus der Rolle der modernen Trockenheit und Sachlichkeit zu fallen.
In dieser Nacht trat das Zügellose in Philipp klar hervor, freilich in den Formen seiner glänzenden Begabung. Er war, ohne einen wirklichen Rausch zu haben, wie außer sich von tollstem Lebensdrang. Sein schönes Gesicht ließ die würdige Maske fallen und gab endlich der Flamme Raum. Unnachahmlich spielte er den eifrigen Conferencier eines Vorstadt-Varietés. Ohne daß er sich im geringsten darauf vorbereitet hatte, strömten ihm, während er die Mitwirkenden vorführte und einbegleitete, die Einfälle zu; er überbot sich an glänzenden Improvisationen, an komischen Wortfolgen, an grellen Beobachtungen. Der Schauspieler sperrte nur so den Mund auf, der Vorlacher bog sich und machte alle übrigen zu Nachlachern. Eine der Nummern war Herrn Bichler anvertraut, der den Wunsch geäußert hatte, sich als Zauberkünstler produzieren zu dürfen. Er radebrechte mit der ihm eigenen abschätzigen Steifheit und lauernden Kränkbarkeit ein paar der üblichsten Kartenkunststücke. Ob sie nun gelangen oder nicht, er beendete sie jedesmal mit dem stolzen »Voilà« der echten Artisten, worauf er die Hände ausbreitete und sich verbeugte. Philipp gab seinen Gehilfen, einen verhungerten, bekümmerten Jüngling, der mit angstvollen Augen die Arbeit seines unfähigen Meisters verfolgt, jede Sekunde gewärtig, daß etwas schmachvoll mißlingen muß und die faulen Äpfel sogleich fliegen werden. Es war wirklich ergreifend. Dann kündigte er sein eignes Auftreten als »Argan-Sinfonie-Jazzband« an. Das gekoppelte Schlagwerk einer Jazzmusik wurde hereingeschoben, dessen große Trommel und Becken mittels eines Pedals zu spielen waren. Philipp setzte sich davor, in der Rechten ein Saxophon, auf dem Schoß eine Stopftrompete und die Ziehharmonika neben sich. Leopold half am Klavier. Dann ging die Hölle los. Man hätte meinen können, eine ganz große Negerbande sei entfesselt. Die Trommel pochte unaufhörlich. Das Becken gellte. Einmal knautschte das Saxophon sein Mißbehagen in die Nacht. Dann löste es die Trompete mit keifendem Schimpf ab. Und dazwischen schnauften noch die Akkorde der Ziehharmonika. Wir starrten überwältigt, daß ein einzelner dieses rhythmische Toben und Quäken einer Jazzband zustande bringe. Auf Philipps hin und her gepeitschtem Gesicht aber malte sich ein fassungsloser Fanatismus ab, von dessen Vorhandenheit ich trotz alles Musizierens bisher nichts geahnt hatte. Da geschah es, daß mich jener Schreck erfaßte. Seine Nummer aber war noch nicht das Hauptstück. Das kam erst, als er wieder als Ansager vortrat und mit tiefem Ernste verkündete:
»Als nächstes, meine Damen und Herren, bringen wir Ihnen eine Künstlerin, die Sie alle kennen und schätzen. Sie wird ein liebliches Volkslied zum besten geben und sich dabei selbst begleiten. Es ist uns nur unter den größten Opfern und nach langwierigen Verhandlungen, die sich schon zu zerschlagen drohten, endlich gelungen, die Meisterin zur Mitwirkung an unserer Festakademie zu bewegen. Ich muß mich mit meiner Conference beeilen, denn die Sängerin – eine zweite Garbo an Scheu und Empfindsamkeit – wird draußen von zwei Mitgliedern festgehalten, damit sie nicht davonlaufe und kontraktbrüchig werde.«
Philipp neigte sich vor und flüsterte:
»Ich möcht' Sie noch auf einen besonderen Reiz der kommenden musikalischen Nummer aufmerksam machen. Die Künstlerin in ihrer charakteristischen Eigenwilligkeit spielt und singt ohne Vorzeichen, das heißt, sie schaltet die Kreuzchen und B der verschiedenen Tonarten geflissentlich aus, wodurch sie bestimmte fremdartige Wirkungen erzielt, um die sie mancher moderne Komponist beneiden könnte. Ich bitte die Herrschaften, unsere scheue Attraktion sofort durch donnernden Applaus zu ermuntern und von Fluchtgedanken abzubringen.«
Nach diesen Worten stürzte er ins Haus und kam erst nach einer spannenden Pause zurück, die widerstrebende Teta am Arme führend. Als sie in der Mitte der Terrasse das schon vorbereitete Tischchen erreicht hatte, gab Philipp mit einer ritterlichen Verbeugung die festlich gekleidete Magd frei und legte ihr die Zither mit dem untergeschobenen Notenblatt zurecht. Sie lachte laut und verlegen auf, machte ihren eigenartigen Knicks und murmelte entschuldigend:
»Weil's halt der junge Herr so viel gewünscht haben – tu ich's mit Erlaubnis – und für die gnä' Herrschaft.«
Dann setzte sie sich hin, nestelte ihre Stahlbrille hervor und versenkte sich aufmerksam in das Blatt, während sie ihre knorrig abgearbeiteten Finger zögernd auf die Saiten legte. Und jetzt sang sie. Wenn ich mich recht erinnere, war's das berühmte Lied von Koschat:
»Verlassen, verlassen, verlassen bin i,
Wie ein Stein auf der Straßen ...«
Diesen todtraurigen, herzerweichenden Schmachtfetzen aus einer glücklichen Zeit hatte Teta gewählt. Vermutlich bestand ihr Repertoire nur aus traurigen Stücken. Die harte slawische Aussprache ihres Vortrags aber nahm dem Stück jede Sentimentalität und den Charakter der sich selbst bewinselnden Verlassenheit. Dazu kam noch die Sache mit den fehlenden Vorzeichen. Während ihres musikalischen Selbstunterrichtes waren Teta Sinn und Zweck der Halbtöne verborgen geblieben, die auf den Saiten der Zither durch Griffe eigens erzeugt werden müssen. Ich hatte anfangs gefürchtet, es würde sehr komisch sein und der Lacher werde sein unwiderstehliches Zeichen geben und die Magd sich verhöhnt fühlen. Schon hatte ich mich über Philipp geärgert, daß er Teta ins Spiel gezogen. Aber es war nicht komisch, sondern, genau nach den Worten des Ansagers, seltsam und fremdartig. Der Lacher und sein Gefolge lachten nicht, sondern schauten mit überraschten Gesichtern drein. Teta sang nicht wie eine alte Frau. Sie hatte die kühle und klare Stimme eines Jungmädchens, ja eines Kindes. Eine dünne, eine strohblonde Stimme, möchte ich sagen. Wenn man die Augen schloß, hätte man meinen können, ein kleines Hirtenmädel auf einer verlorenen Hutweide zu hören. Nein, das stimmt nicht ganz. Ihr Gesang hatte etwas mühsam und unnachgiebig Fortschreitendes, denn die stammelnden Finger hatten ihre liebe Not, die vorgeschriebenen Saiten zu finden. So war das suchende Spiel und der dünne klare Gesang zugleich eine ernste Arbeit, in die Teta versunken schien, als sitze sie ganz allein mit ihrer Zither auf dem Platzl