Einführung in den Buddhismus. Geshe Kelsang Gyatso
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Der einzige bedeutsame Unterschied zwischen dem Vorgang des Schlafens, Träumens und Erwachens und dem Vorgang des Sterbens, des Zwischenzustandes und der Wiedergeburt besteht darin, dass nach der Beendigung des klaren Lichtes des Schlafes die Beziehung zwischen unserem Geist und unserem gegenwärtigen Körper intakt bleibt, wogegen diese Beziehung nach dem klaren Licht des Todes abbricht. Wenn wir darüber nachdenken, werden wir die Überzeugung gewinnen, dass vergangene und zukünftige Leben existieren.
Normalerweise glauben wir, dass die Dinge, die wir in unseren Träumen wahrnehmen, nicht real sind, nehmen aber an, dass die Dinge, die wir im Wachzustand wahrnehmen, echt sind. Buddha aber sagte, dass alle Phänomene wie Träume sind, weil sie lediglich Erscheinungen im Geist sind. Für diejenigen, die Träume richtig interpretieren können, haben sie eine große Bedeutung. Wenn wir zum Beispiel in einem Traum ein bestimmtes Land besuchen, in dem wir in diesem Leben noch nicht gewesen sind, weist unser Traum auf eine von vier Möglichkeiten hin: wir sind in einem früheren Leben in diesem Land gewesen; wir werden es später in diesem Leben besuchen; wir werden es in einem zukünftigen Leben besuchen; oder dieses Land hat für uns eine persönliche Bedeutung, falls wir beispielsweise kürzlich einen Brief aus diesem Land erhalten oder ein Fernsehprogramm darüber gesehen haben. Ähnliches gilt, wenn wir vom Fliegen träumen. Das kann bedeuten, dass wir in einem früheren Leben fliegen konnten wie ein Vogel oder wie ein Meditierender mit Wunderkräften, oder dass wir in Zukunft so ein Wesen sein werden. Ein Traum vom Fliegen kann auch eine übertragene Bedeutung haben, indem er eine Verbesserung unserer Gesundheit oder unseres Geisteszustandes symbolisiert.
Mit Hilfe von Träumen konnte ich herausfinden, wo meine Mutter nach ihrem Tod wiedergeboren wurde. Kurz bevor sie starb, nickte meine Mutter für einige Minuten ein. Als sie aufwachte, erzählte sie meiner Schwester, die sie betreute, sie hätte von mir geträumt. Im Traum hätte ich ihr einen traditionellen weißen Schal, einen Khatag, dargebracht. Ich deutete diesen Traum so, dass es mir möglich sein würde, meiner Mutter in ihrem nächsten Leben zu helfen. Deshalb betete ich nach ihrem Ableben jeden Tag, dass sie in England wiedergeboren würde, damit ich so die Gelegenheit hätte, ihrer Wiedergeburt zu begegnen und sie wiederzuerkennen. Ich richtete kraftvolle Bitten an meinen Dharmapala, mir klare Zeichen zu geben, wo die Wiedergeburt meiner Mutter zu finden sei.
Später hatte ich drei Träume, die mir bedeutungsvoll schienen. Im ersten träumte ich, ich hätte meine Mutter an einem Ort getroffen, den ich für England hielt. Ich fragte sie, wie sie von Indien nach England gereist sei, aber sie antwortete, sie sei nicht von Indien, sondern aus der Schweiz gekommen. Im zweiten Traum sah ich meine Mutter zu einer Gruppe von Menschen sprechen. Ich näherte mich ihr und sprach sie auf Tibetisch an, aber sie schien nicht zu verstehen, was ich sagte. Solange sie lebte, sprach meine Mutter nur tibetisch, aber in diesem Traum sprach sie fließend englisch. Ich fragte sie, warum sie ihr Tibetisch vergessen habe; sie antwortete aber nicht. Im selben Traum kam später ein Paar aus dem Westen vor, das beim Aufbau von Dharma-Zentren in England mithilft.
Beide Träume schienen Hinweise darauf zu geben, wo meine Mutter wiedergeboren worden war. Zwei Tage nach dem zweiten Traum besuchte mich der Ehemann des Paares, von dem ich geträumt hatte, und sagte mir, seine Frau sei schwanger. Ich erinnerte mich sogleich an meinen Traum und dachte, dass ihr Baby die Reinkarnation meiner Mutter sein könnte. Die Tatsache, dass meine Mutter im Traum ihr Tibetisch vergessen hatte und nur englisch sprach, deutete darauf hin, dass sie in einem englischsprachigen Land wiedergeboren würde, und die Anwesenheit dieses Paares im Traum konnte ein Hinweis dafür sein, dass es ihre Eltern waren. Ich führte dann ein traditionelles Orakel, das man auf Tibetisch «Mo» nennt, zusammen mit rituellen Gebeten aus, und dieses wies darauf hin, dass ihr Kind die Reinkarnation meiner Mutter war. Ich war sehr glücklich, erwähnte es aber niemandem gegenüber.
In der Nacht, als die Frau zur Entbindung ins Krankenhaus gebracht wurde, träumte ich immer wieder von meiner Mutter. Am nächsten Morgen betrachtete ich die Angelegenheit sorgfältig und traf eine Entscheidung: Wenn ihr Baby in dieser Nacht geboren worden war, dann war es sicher die Reinkarnation meiner Mutter, aber wenn dies nicht der Fall war, müsste ich weitere Untersuchungen anstellen. Nachdem diese Entscheidung getroffen war, telefonierte ich mit dem Ehemann, der mir die gute Neuigkeit mitteilte, dass seine Frau in der Nacht ein Mädchen zur Welt gebracht hatte. Ich war sehr glücklich und machte eine Puja, eine Darbringungszeremonie, als Dankesdarbringung an meinen Dharmapala.
Einige Tage später rief mich der Vater an und teilte mir mit, dass das Baby sofort zu schreien aufhöre und zuzuhören scheine, sobald er Buddha Avalokiteshvaras Mantra OM MANI PÄME HUM rezitiere. Er fragte mich, warum dies so sei, und ich antwortete, es beruhe auf einer Neigung aus dem vorangegangenen Leben. Ich wusste, dass meine Mutter dieses Mantra mit starkem Vertrauen ihr ganzes Leben lang rezitiert hatte.
Das Kind bekam den Namen Amaravajra. Als später Kuten Lama, der Bruder meiner Mutter, England besuchte und Amaravajra zum ersten Mal sah, war er erstaunt, wie liebevoll sie zu ihm war. Er sagte, es sei, als ob sie ihn erkennen würde. Ich machte die gleiche Erfahrung. Obwohl ich Amaravajra nur selten besuchen kann, ist sie immer äußerst glücklich, mich zu sehen.
Als Amaravajra zu reden begann, zeigte sie eines Tages auf einen Hund und rief «kyi, kyi». Danach sagte sie immer wieder «kyi», wenn sie einen Hund sah. Ihr Vater fragte mich, ob «kyi» etwas bedeute, und ich sagte ihm, dass im Dialekt des westlichen Tibets, wo meine Mutter gelebt hatte, «kyi» Hund heißt. Dies war nicht das einzige tibetische Wort, welches das kleine Mädchen spontan äußerte.
Durch den Mann meiner Schwester vernahm ich später, ein tibetischer Astrologe hätte nach dem Tod meiner Mutter vorausgesagt, dass sie als Frau in einem Land mit einer anderen Sprache als Tibetisch wiedergeboren würde. Diese Geschichte stammt aus meiner persönlichen Erfahrung, aber wenn wir Nachforschungen anstellen, können wir viele andere wahre Geschichten darüber finden, wie Menschen in der Lage waren, Reinkarnationen ihrer Lehrer, Verwandten, Freunde und anderer zu erkennen. Denken wir über solche Geschichten nach und besinnen uns auf die Natur des Geistes und die Erfahrung von Träumen, werden wir mit Bestimmtheit davon überzeugt werden, dass es vergangene und zukünftige Leben gibt.
In seinen tantrischen Unterweisungen lehrte Buddha eine spezielle Praxis, die «Bewusstseinsübertragung in einen anderen Körper» genannt wird. Diese Praxis war in den Anfangszeiten des Buddhismus in Tibet ziemlich weit verbreitet. Ein Praktizierender, der sie meisterhaft beherrschte, war Tarma Dode, der Sohn des berühmten tibetischen Laien-Lamas und Übersetzers Marpa. Eines Tages stürzte Tarma Dode beim Reiten vom Pferd und verletzte sich tödlich.
Marpa, der wusste, dass sein Sohn die Praxis der Bewusstseinsübertragung beherrschte, begann sofort nach einer Leiche zu suchen, in welche Tarma Dode sein Bewusstsein übertragen konnte. Da er keinen menschlichen Leichnam fand, brachte Marpa seinem Sohn die Leiche einer Taube, die als vorübergehende Behausung für dessen Geist dienen sollte, bis er einen geeigneten menschlichen Leichnam finden würde. Tarma Dode stieß seinen Geist aus seinem sterbenden Körper aus und übertrug ihn in den Leichnam der Taube. Tarma Dodes Körper starb sofort, jener der Taube aber kehrte zum Leben zurück. Tarma Dodes Körper war jetzt der Körper einer Taube, aber sein Geist war immer noch der Geist eines Menschen.
Da er seinen Sohn nicht im Körper einer Taube lassen wollte, setzte Marpa seine Suche nach einem geeigneten menschlichen Leichnam fort. Eines Tages sah er dank seiner Hellsicht, dass ein buddhistischer Lehrer eben in Indien gestorben war und seine Schüler ihn auf den Friedhof gebracht hatten. Marpa sagte seinem Sohn, er möge so schnell wie möglich nach Indien fliegen. Tarma Dode flog im Körper der Taube nach Indien. Als er beim Leichnam des Lehrers ankam, stieß er seinen Geist aus dem Körper der Taube und trat in denjenigen der Leiche ein. Der Körper der Taube starb sofort, während der Körper des verstorbenen Lehrers zum Leben zurückkehrte. Tarma Dode verbrachte den Rest seines Lebens in Indien als Lehrer namens Tiwu Sangnak Dongpo. Einige Jahre später sandte Marpas Hauptschüler Milarepa seinen eigenen Schüler Rechungpa nach Indien,