Sünde. Ben Bennett

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Sünde - Ben Bennett

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das unvorsichtigere, je nachdem.

      Eine alte Familientradition in den Wind schlagend hatte sie beschlossen, dem Leben eine Chance zu geben. Und nicht, sich vor ihm zu verstecken, bis es endlich vorbei war, mit all seinen Schrecken.

      So wie Esther es getan hatte. Seit den Bombenanschlägen auf die jüdische Gemeinde in den Neunzigern verschanzte sie sich praktisch in der Wohnung. Und verfolgte das Leben draußen vor ihrem Fenster nur noch als Zaungast.

      Wie zum Ausgleich für dieses Defizit an Lebensfreude hatte sie sich einige merkwürdige Macken zugelegt:

      Eine davon war vorsätzliches Frieren.

      Selbst zu Weihnachten – im argentinischen Hochsommer also – trug sie noch einen Rollkragenpullover und hüllte sich in eine der unzähligen Wolldecken, die über die ganze Wohnung verstreut waren. Mit Hilfe der Klimaanlage kühlte sie das Apartment so herunter, dass man zu jeder Jahres- und Tageszeit das Gefühl hatte, nicht in Südamerika, sondern in Sibirien zu sein. Die Klimaanlage schloss die Wärme aus, die Vorhänge die Sonne. Ihre Haut war bis zum letzten Tag so weiß wie feinstes Meißner Porzellan geblieben, und das, obwohl sie ihr Leben an einem subtropischen Ort verbracht hatte.

      Überhaupt: Weiß. Zuletzt hatte sie nur noch weiße Gewänder getragen.

      Weiß wie das Licht, in dem sie sich schließlich auflöste.

      Sicher: Das Leben war schmerzvoll. Für manche Menschen mehr, für andere weniger. Für Esther war es sehr schmerzvoll gewesen, Hannah verstand sie nur zu gut. Aber hieß das, dass man aufgeben sollte? Dem Leben Adios zu sagen, ohne es gelebt zu haben? Es ungelebt zurückzugeben wie ein originalverpacktes Geschenk? Um sich im sicheren Halbdunkel hinter zugezogenen Vorhängen zu verstecken? Unter sich die pulsierenden Adern einer Metropole, die niemals schläft – das Orchester des Lebens, dessen Klang gedämpft durch das verschlossene Fenster weht. Was blieb einem dann noch, außer dem Fernseher als einzige, sichere Verbindung zu der Welt da draußen?

      Nein. So konnte und wollte Hannah nicht leben.

      Nachdem sie das Fotoalbum wieder an seinen Platz gebracht hatte, warf sie einen Blick in ihren jungfräulichen Reisepass. Er war noch gültig und glänzte wie nagelneu.

      Wenn Esthers ständige Panik etwas Gutes gehabt hatte, dann das: Sie hatte ihr eingebleut, ihre Ausweispapiere unter keinen Umständen zu vernachlässigen. Sie immer aktuell und griffbereit zu haben. Für den Fall, dass sie fliehen würde müssen.

      Hannah hatte ihren Rat zwar verstanden, nach allem, was ihre Mutter durchgemacht hatte. Wirklich ernst genommen jedoch hatte sie ihn nicht. Aber jetzt war es gut. Denn so konnte sie bereits nächste Woche nach Wien fliegen. Alles war in bester Ordnung.

      „Pass gut auf dich auf“, hätte Esther gesagt. „Und verlier nicht den Kopf.“

      Als lauere hinter jeder Ecke ein Henker auf der Suche nach Arbeit.

      4

      In jener Nacht hatte Hannah einen Traum.

      Auf einem schneeweißen Lipizzaner ritt sie durch die im goldenen Licht der Straßenlaternen liegenden Gassen einer prächtigen alten Stadt. Neben ihr auf einem zweiten Schimmel saß ein Mann, dessen Gesicht sie nicht erkennen konnte. So sehr sie sich auch bemühte – es blieb verschwommen. Offensichtlich waren sie ein Paar, denn er hielt ihre Hand fest umschlossen, während sie nebeneinander einher trabten. Das Bewegendste aber war: Obwohl sie sein Gesicht nicht erkennen konnte, spürte sie ein unendlich tiefes Urvertrauen in sich. Noch am Morgen danach konnte sie spüren, wie es sich angefühlt hatte: ihre Hand in seiner. Sie hatte das Gefühl, zu Hause angekommen zu sein. Alles war unfassbar friedlich. So friedlich wie noch nie zuvor in ihrem Leben.

      Zugegeben: Der Traum mochte etwas mit ihren Reisevorbereitungen zu tun haben. Am Abend zuvor hatte sie Meine Lieder, meine Träume gesehen. Ihren Lieblingsfilm, der eigentlich ein amerikanischer Film war und The Sound of Music hieß.

      Der Klang von Musik.

      Dieser Titel gefiel ihr wesentlich besser, aber leider sprach sie nur Spanisch und das österreichisch eingefärbte Deutsch, das sie von ihrer Mutter hatte. In der Schule hatte sie zwar ein bisschen Englisch gelernt, aber das meiste von dem bisschen hatte sie bereits wieder vergessen.

      Von The Sound of Music besaß sie eine DVD. Eigentlich gehörte sie ihrer Mutter, denn es war auch ihr Lieblingsfilm gewesen. Die Trapp-Familie. Manchmal schaute sie sich den Film in seiner Originalversion an, denn die englischen Lieder waren einfach besser. Auch wenn sie nicht alles verstand.

      Von ihrem Klang her jedoch – dem Klang der Musik – kannte sie alle Lieder, die darin vorkamen, in und auswendig. Und ihr Lieblingslied – Edelweiß – konnte sie fehlerfrei mitsingen. Sogar die englische Version.

      Sie musste jedes Mal weinen, wenn sie den Film sah.

      Das war das Gute, wenn man allein war: Man konnte hemmungslos losheulen, wann immer man wollte. Es gab keinen Grund sich zu schämen. Denn niemand war da, der den Tränen beim Trocknen zusehen musste, betreten, betroffen oder peinlich berührt.

      Nach The Sound of Music war Sissi an der Reihe gewesen, der zweite österreichische Film in ihrer nicht gerade neiderregenden Heimkino-Bibliothek, die aus insgesamt nicht mehr als einem Dutzend Filmen bestand, die meisten davon schon ziemlich verstaubt. Märchen von einer besseren Welt und aus einer anderen Zeit. Vielleicht hatte sie deshalb geträumt, sie wäre eine Prinzessin, die an der Seite ihres Prinzen durch das nächtliche Wien reitet.

      Hannah liebte Happy Ends. Möglicherweise umso mehr, weil sie in der Realität so selten in ihrer Familie vorkamen. Weil es offenbar eine genetische Veranlagung in der Familie Goldlaub gab, die von einer Generation auf die nächste übertragen wurde und die dem Unglück Tür und Tor öffnete.

      Es war ihre eigene Stimme, die sie an diesem Morgen weckte. Sie summte, offenbar noch immer unter dem Eindruck des vergangenen Abends, leise die Melodie ihres Lieblingslieds, das die Trapp-Familie angestimmt hatte, kurz bevor sie ihr geliebtes Salzburg zurücklassen muss, das seine edelweiße Weste an die Nazis verloren hat:

      Edelweiss, Edelweiss

      Every morning you greet me

      Small and white,

      Clean and bright,

      You look happy to meet me …

      Wäre ich doch nur ein Blümchen auf dem Gipfel eines Berges, dachte Hannah. Auch sie wollte aufblühen wie ein Edelweiß; sich der Sonnenseite des Lebens entgegenstrecken, und wenn es nur für Tage, Wochen, vielleicht einen Monat war, bevor sie bis zum Bersten aufgetankt mit Glück verblühte. Was hatte sie zu verlieren? Sie wusste nicht, ob ihrer Reise nach Wien ein Happy End vergönnt sein würde – doch wenn sie hier blieb, mit einem nicht mehr lange unsichtbaren kleinen Prinzen oder einer kleinen Prinzessin in ihrem Bauch, würde ihr garantiert kein Happy End beschieden sein. So viel war klar.

      Wenn es stimmte, dass jeder Mensch zumindest einmal in seinem Leben eine Chance bekommt, den Fahrstuhl in das nächsthöhere Stockwerk zu betreten, musste sie einsteigen, bevor sich die Türen wieder schlossen. Ihr Entschluss stand fest: Was auch immer geschah, sie würde die geheimnisvolle Einladung annehmen und nach Wien fliegen. Getragen von den mächtigen Schwingen eines stählernen weißen Feuervogels, der hoch über den Wolken und den Dächern der Welt dort unten dafür sorgte, dass Aschenputtel sicher auf den königlichen Ball

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